Was nützt uns dieser fromme Spruch?

Eine Predigt zur Jahreslosung 2012. Von Gudrun Kuhn, Nürnberg

"Die Starken sind gefragt, wenn es darum geht, die Zustände zu ändern, die andere schwach machen. Die Starken müssen sich fragen lassen, ob sie genügend tun, um Leiden zu lindern. Die Starken erinnert die Jahreslosung an ihre Verantwortung. 365 Tage lang."

Liebe Gemeinde,

Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig. So lautet die Jahreslosung für das Jahr 2012.
Für wen ist sie eigentlich gedacht?
Soll man sie vielleicht in den Straßenkreuzer setzen, in die Zeitschrift der Obdachlosen? Soll man sie der alleinerziehenden Mutter zusprechen, die von Hartz IV lebt? Oder dem Lang­­zeit­arbeitslosen? Oder der MS-Kranken, die sich mühsam mit dem Rollator bewegt? Vielleicht auch noch im Großformat entlang der Straßen, auf denen sich die Ströme der Hungernden vorwärtsschleppen? Oder im italienischen Auffanglager für Flüchtlinge aus Afrika?
Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig. Für wen ist die Jahreslosung gedacht?
Kann sein, Sie werfen mir jetzt vor, ich sei zynisch. Aber das will ich nicht sein. Ich habe nur et­was gegen fromme Sprüche. Und Losungen werden leicht zu from­men Sprüchen. So ähn­lich wie Sammlungen mit Titeln wie „Mit Goethe durch das Jahr.“ oder „Schopenhauer für je­den Tag.“
Fromme Sprüche.
Wie kann es einen Spruch geben, der für alle Menschen, zumindest alle Christen, aus­sa­ge­kräf­­­tig ist? Einen Spruch, der keinen ausschließt? Einen Spruch, den man nicht falsch ver­ste­­hen kann?
Seien wir doch ehrlich. Wie ist das denn, wenn man einmal versucht, die Herrnhuter Lo­sun­gen zu bedenken. Die Gründer dieser Tradition gingen davon aus, dass die Lesenden sich täg­­­lich fragen: Was will mir Gott heute sagen? Aber lautet nicht die Antwort an vielen Tagen: gar nichts!
Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig.
Was sagt uns das? Uns, die wir vielleicht schwach sind. Uns, die wir vielleicht stark sind. Was heißt „Gottes Kraft“? Was heißt „mächtig“? Was soll uns so ein Spruch?
Nun will ich ja gar nicht leugnen, dass es vorkommen kann, dass wir von einem Bibelwort unmittelbar getroffen werden.
Das gibt es, dass uns der Segensspruch beim Abendmahl direkt ins Herz geht.
Das gibt es, dass wir unseren Konfirmationsspruch plötzlich ganz neu verstehen.
Das gibt es, dass wir die Bibel aufschlagen und meinen, der Text sei gerade für uns ge­schrie­ben.
Ja, all das gibt es. Und es sind sehr beglückende Momente. Momente, aus denen man Lebenskraft gewinnt.
Aber es sind eben Momente. Kostbare Momente zwar, doch im Alltag, auch im Alltag un­se­res Glaubenslebens, müssen wir meist ohne solche Momente auskommen können.
Und mit dieser Bemerkung bin ich mitten in dem Kontext, aus dem unsere Jahreslosung her­aus­genommen ist. Lassen Sie mich erzählen, was Paulus widerfahren ist, als er sie for­mu­liert hat.
In Korinth, seiner Gemeinde, die er selbst gegründet hat und deshalb ganz besonders liebt (2. Kor. 11,11), rumort es. Während er in Kleinasien weilt, sind neue Lehrer aufgekreuzt, die sich als die wahren Apostel Christi aufspielen. Sie wollen die Gemeinde von der Lehre des Paulus abspenstig machen. Und das mit einigem Erfolg.
Was macht sie so verführerisch?
Sie bieten den Gemeinden großartige religiöse Erlebnisse an. In mitreißender Wortgewalt schil­dern sie Himmelsreisen. Ihre Verkündigung lädt alle ein, dem grauen Alltag zu ent­kom­men und in tranceartigen Bewegungen ins Jenseits hochzusteigen, um dort mit dem er­höh­ten Christus eins zu werden. Ekstatische Praktiken werden angepriesen. Und über dem Auf­stieg ins Paradies wird alles vergessen, was das Erdenleben schwer und beschwerlich macht: Vom irdischen Jesus und vom Kreuz will man nichts hören. Auch nichts vom Dienst an den Leidenden und Armen. Hauptsache, der eigenen Seele geht es gut!
All dies beobachtet Paulus aus der Ferne mit großer Sorge. Und natürlich bekommt er auch mit, dass er in der Korinther Gemeinde schlecht gemacht, ja sogar verspottet wird.
„Aha“, sagen die neuen Lehrer, die sich für ihre Guru-Tätigkeiten gut bezahlen lassen, „Aha“, sagen sie, „dieser Paulus wird schon gewusst haben, warum er von euch kein Geld nahm. War er vielleicht so ein guter Rhetoriker wie wir? Nein! Hat er euch vielleicht so wunderbare Visionen ermöglicht? Nein! Ein Stümper war er. Kein religiöser Meister!“
Religiöse Meister.
Ja, die gibt es heutzutage auch zur Genüge.
Viel zu nüchtern seien unsere Gottesdienste, heißt es da. Und für viel Geld lassen sich man­che Zeitgenossen in esoterische Praktiken einweihen, die ihnen Heilwerden ihrer Seelen ver­spre­chen. Meditationskurse und Initiation in afrikanische Kulte werden uns angeboten. Und ultra­konservative Katholiken träumen von der alten lateinischen Messe mit viel Weih­rauch und geheimnisvollen Gesten, die den Verstand umnebeln.
Religiöse Meister allenthalben.
Religiöse Meister fühlen sich stark. Sie haben Macht über ihre Anhänger. Sie vermitteln das Ge­fühl einer Religion, die uns aus dem Alltag in höhere Sphären erhebt. Und gegen solche re­­ligiösen Meister wettert Paulus. Sie predigen, wie er sagt „einen anderen Jesus“ und ein „an­deres Evangelium“. (2. Kor. 11, 4)
Doch um seiner Gemeinde aus ihrem Irrweg herauszuhelfen, begibt sich der Apostel auf das Ni­veau seiner Gegner und zahlt ihnen ihre Dummheit – wie er es nennt – mit gleicher Münze heim. Ich will mich zum Dummkopf machen, so sagt er, um gegen Dummköpfe zu argu­men­tie­ren. Aber worin besteht die Dummheit der Gurus von Korinth? In ihrer Ruhmsucht. Sie prahlen mit ihren außergewöhnlichen religiösen Erlebnissen. Sie rüh­men sich ihrer Stärke. Paulus aber setzt dem entgegen: Wenn ich auch so ein Dummkopf wä­re, der gerne prahlt, dann müsste ich mich meiner Schwachheit rühmen. (2. Kor. 11,30)
Dass einer stolz ist auf seine Schwachheit, das muss den Korinthern ebenso seltsam vor­ge­kom­men sein wie uns Heutigen. Niemand in unserer Gesellschaft ist stolz auf seine Schwach­heit. Im Gegenteil: Von klein auf lernen wir:
Nur keine Schwäche zeigen!
Besser schon im Voraus zum Angriff übergehen.
Lieber jedes Versagen leugnen und alle Fehler vertuschen.
Eher lügen als sich so zeigen, wie man wirklich ist.
Das erleben wir tagtäglich.
Ganz offen dagegen berichtet Paulus von seiner Schwachheit. Er räumt ein, dass er ein schlech­ter Redner ist. (Man kann es gar nicht glauben, wenn man sein Briefe liest!) Und kei­ne seiner kritischen Lebenssituationen verschweigt er: Gefangenschaft und Folter, Schiff­bruch und Wüstenmarsch, Anfeindung und Denunziation … All das hat er erlebt. Wahrlich kei­ne ruhmreiche Biografie!
Und darüber hinaus offenbart er der Gemeinde noch etwas, was er in keinem anderen Brief erwähnt. Auch er hat mystische Erlebnisse gehabt. Auch er ist „in das Paradies entrückt“ wor­den, wie er es ausdrückt. Aber diese Erlebnisse haben ihn nicht über andere erhoben. Ganz im Gegenteil: sie sind nur die Kehrseite vielfältiger Leidenserfahrungen.
Und das Entscheidende ist: Solche mystischen Erlebnisse sind eben gerade nicht mitteilbar. Man kann sie nicht auf dem Markt religiöser Möglichkeiten verkaufen. Man kann sie nicht durch irgendwelche Techniken absichtlich hervorrufen wollen. Der Apostel schildert deshalb auch keine seiner Visionen, er malt keine prächtige Himmelsschau aus. Stattdessen habe er „un­aus­sprech­liche Worte“ erfahren, die man nicht an andere weitergeben kann und darf. Die Sprache stößt eben an ihre Grenzen, wenn die Grenzen unserer Welt überschritten sind.
Wie nüchtern und realistisch da der Apostel seine Gemeinde berät.
Glaubt den Scharlatanen nicht, die euch detaillierte Kunde vom Jenseitigen versprechen! Glaubt den Scharlatanen nicht, die euch vormachen, ihr könntet mehr Dinge auf die Erde herun­ter holen, als eure Men­schen­weis­heit sich träumen lässt!
Glaubt den Scharlatanen nicht, man könne mystische Erfah­run­gen machen und dabei dem Er­denleid entkommen.
Ganz im Gegenteil: Paulus hadert mit Gott, dass er ihm ausgerechnet dann besonders nahe war, wenn er leiden musste.
Und an dieser Stelle steht nun unsere Jahreslosung.
Paulus schreibt: Der Herr „hat mir gesagt: Du hast genug an meiner Gnade, denn die Kraft findet ihre Vollendung am Ort der Schwachheit.“
Die Kraft findet ihre Vollendung am Ort der Schwachheit.
So übersetzt es die Zürcher Bibel. Und so steht es auch im griechischen Text. Luther ist da etwas frei verfahren.
Und jetzt verstehen Sie vielleicht, warum ich so sehr gegen fromme Sprüche bin. Sie sind dehn­­­bar wie Gummi und lassen sich in jede beliebige Richtung auslegen. Sie werden ein­fach dem Verfasser geklaut. Wie hat sich der Apostel abgemüht in seiner wirklich kom­pli­zier­ten Argumentation! Mit Herzblut und Tränen hat er die Zeilen diktiert. Und jetzt wird das alles ein­gedünnt auf einen Satz.
Aber wir kennen ja inzwischen den Kontext. Und dieser erinnert mich an die Berg­pre­digt. Auch dort werden religiöse Meister abgewiesen, die sich stark fühlen und Stärke de­mon­strie­ren wollen. Selig sind, die geistlich arm sind, sagt Jesus. Ohne spirituellen Reich­tum, ohne groß­­ar­tige religiöse Emotionen. Schwarzbrot­spi­ri­tuali­tät hat das Fulbert Steffensky genannt. Wir sollen uns keine zuc­ker­sü­ßen Frömmigkeitstorten wünschen. Wir sollen uns keine Über­le­genheit wünschen, so als wür­de unser Glaube alle Lebensprobleme aus dem Weg schaf­fen. Wir können den Himmel nicht auf die Erde zwingen und uns nicht in den Himmel hinauf­stem­men.
Gottes Gnade genügt. Gottes Zuneigung heißt es in einer anderen Übersetzung. Von Gottes Wohlgefallen haben wir an Weihnachten gelesen.
Anders ausgedrückt: Dem Glauben muss Gottes Zusage genügen.
Auch in Zeiten, in denen wir keine überschwänglichen religiösen Gefühle haben.
Auch in Zeiten, in denen uns Zweifel belasten.
Auch in Zeiten, in denen uns die unerlöste Welt und die Leiden der Schwachen irre machen an Gott.
Paulus macht klar: Unser irdisches Leben ist ein vor-läufiges. Wir dürfen nicht von dieser Er­de in ein Himmelreich fliehen wollen und wir können diese Erde nicht zum Himmelreich ma­chen. Wir müssen die Schwachheit ertragen lernen.
Die Schwachheit ertragen. Dieser Gedanke ist nicht besonders populär. Schon der Phi­lo­soph Nietzsche hat dagegen gehalten: Christentum – das sei eine Religion für Schwäch­lin­ge, für solche, die zu kurz gekommen sind und nun den Starken und Glücklichen nichts gön­nen.
Und ich glaube, wenn wir die Jahreslosung unkommentiert lassen, müssen wir uns nicht wun­­dern über solche Vorwürfe. Schauen wir doch einmal in eine der alten Kirchen. Sie sind voll­­­gestellt mit Schwachen, denen man goldene Kronen aufgesetzt hat: Geköpfte, Ver­brann­te, Gemarterte.
Was nützen uns solche Vorbilder? Wir sind keine Heiligen, wir sind auch keine Mutter Theresa. Wir sind keine religiösen Genies. Wir haben unseren ganz normalen kleinen Alltag.
Wir sorgen uns um unsere Kinder und Enkel, wenn sie schwach sind in der Schule. Wir fürchten dann um ihre Zukunft.
Wir haben Angst, den beruflichen Anforderungen nicht zu genügen. Wir fürchten dann um un­seren Arbeitsplatz.
Wir spüren, dass es Menschen gibt, die uns kleinkriegen wollen. Wir fürchten dann, dass un­se­re Persönlichkeit zerstört wird.
Wir leiden unter dem Altwerden und all den Schwächen, die uns plagen. Wir fürchten dann, dass wir einmal auf Hilfe angewiesen sein werden.
Und was sollen all die sagen, die von schwerer Krankheit betroffen sind?
Nein, so geht das nicht! Ein Lob der Schwäche sollte die Kirche sich sparen!
Aber so einfach hat es sich ja Paulus auch nicht gemacht.
Er würde sagen: Wir können die menschliche Schwachheit, wo sie sich nicht ändern lässt, ertragen. Denn Gott hat in Jesus Schwachheit zur höchsten Würde gebracht. Er steht nämlich nicht auf der Seite der vermeintlich starken Täter, sondern auf der Seite der Opfer. Das ist mit Gottes Kraft gemeint. Kein angebliches Recht des Stärkeren. Keine Kraftmeierei. Sondern: Reich und Kraft und Herrlichkeit. Nicht von dieser Welt. Anders …
Solches Ertragen heißt gerade nicht, dass wir womöglich mit unserer Jahreslosung Schwä­che und Not verharmlosen.
Ich erinnere an einen anderen Streitfall des Paulus mit seiner Korinther Gemeinde. Es ging da­bei um Missstände bei der Feier des Abendmahls, die er schonungslos anprangerte. Es wur­­­de in der Frühzeit ja ein richtiges gemeinsames Abendessen veranstaltet, zu dem jeder nach sei­nen finanziellen Möglichkeiten beitrug. Und, so meinte Paulus, es kann nicht an­ge­hen, dass dabei die einen hungrig vom Tisch aufstehen und die anderen sich den Bauch voll­­schla­gen. Diese Mahnung richtet sich klar und entschieden gegen eine religiöse Ge­fühls­kul­tur ohne die richtige Lebenspraxis.
Schwachheit und Leiden, Krankheit und Not ertragen, heißt nicht, die Hände in den Schoß legen, wie es die Gurus in Korinth handhabten. Religiöse Ekstasen statt tätiger Nächs­ten­lie­be. Am Sonntag Reisen ins Paradies und unter der Woche Teilnahmslosigkeit.
Die Starken sind gefragt, wenn es darum geht, die Zustände zu ändern, die andere schwach machen.
Die Starken müssen sich fragen lassen, ob sie genügend tun, um Leiden zu lindern.
Die Starken erinnert die Jahreslosung an ihre Verantwortung.
365 Tage lang.
Und die Schwachen? Können sie Trost aus ihr gewinnen?
Ja – so glaube ich – wenn wir sie ein wenig umformulieren. Gottes Kraft ist in der Schwach­heit mächtig. Als theologische Aussage des Paulus haben wir diesen Satz durchleuchtet. Aber wenn wir ihn auf unser Leben anwenden wollen, muss daraus ein Gebet werden:
Wir setzen unsere Hoffnung darein, dass Gott in uns mächtig wird, wenn wir schwach sind. Er wird dies tun, weil er im Kind in der Krippe und im Mann am Kreuz unsere Schwachheit geteilt hat.
Darum können wir alle – die Starken und die Schwachen, die Mutigen und die Niedergeschlagenen, die Erfolgreichen und die auf der Strecke Gebliebenen, die Frommen und die Zweifler, die in der Nächstenliebe Tätigen und die Trägen, darum können wir alle singen:
Wenn mir am allerbängsten
Wird um das Herze sein,
So reiß mich aus den Ängsten
Kraft deiner Angst und Pein.
AMEN
Predigt im Jahresschlussgottesdienst 2011

Dr. Gudrun Kuhn, Ältestenpredigerin, Nürnberg