Wo kommen wir her?

Predigt zu Mt 1,1–17 am zweiten Weihnachtsfeiertag


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Von Bärbel Husmann

Liebe Gemeinde,

der zweite Weihnachtstag hat immer besondere Predigttexte. In diesem Jahr ist es der Beginn des Neuen Testaments: Mt 1,1–17:

1Stammbaum Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams:
2 Abraham zeugte Isaak,
    Isaak zeugte Jakob,
        Jakob zeugte Juda und seine Brüder.
            3 Juda zeugte Perez und Serach mit Tamar,
                Perez zeugte Hezron,
                    Hezron zeugte Ram,
                        4 Ram zeugte Amminadab,
Ammindadab zeugte Nachschon,
    Nachschon zeugte Salmon,
        5 Salmon zeugte Boas mit Rahab,
            Boas zeugte Obed mit Rut,
                Obed zeugte Isai,
                    6 Isai zeugte den König David.
David zeugte Salomo mit der Frau des Urija,
    7 Salomo zeugte Rehabeam,
        Rehabeam zeugte Abija,
            Abija zeugte Asaf,
                8 Asaf zeugte Joschafat,
                    Joschafat zeugte Joram,
                        Joram zeugte Usija,
9 Usija zeugte Jotam,
    Jotam zeugte Ahas,
        Ahas zeugte Hiskija,
            10 Hiskija zeugte Manasse,
                Manasse zeugte Amon,
                    Amon zeugte Joschija,
                        11 Joschija zeugte Jechonja und seine Brüder zur Zeit der babylonischen Verbannung.
12 Nach der babylonischen Verbannung zeugte Jechonja Schealtiel,
    Schealtiel zeugte Serubbabel,
        13 Serubbabel zeugte Abihud,
            Abihud zeugte Eljakim,
                Eljakim zeugte Azor,
                    14 Azor zeugte Zadok,
                        Zadok zeugte Achim,
Achim zeugte Eliud,
    15 Eliud zeugte Elasar,
        Elasar zeugte Mattan,
            Mattan zeugte Jakob,
                16 Jakob zeugte Josef, den Mann Marias;
                    von ihr wurde Jesus geboren, welcher der Christus genannt wird.
17 Im Ganzen also sind es vierzehn Generationen von Abraham bis David, vierzehn Generationen von David bis zur babylonischen Verbannung und vierzehn Generationen bis zum Christus. [Zürcher Bibel]

 

[Warum ein Stammbaum?]

Was wollen wir dazu sagen? Vielleicht, was Mitte des 19. Jh. ein gewisser Friedrich von Sallet gedichtet hat:

„Der war ein Sohn, der war ein Sohn, der war ein Sohn –
der zeugte den, der zeugte den, der zeugte den –“
So schleppt sich’s fort in trägem Leierton,
bis tote Namen wirr im Hirn sich drehn.

Stammbäume, von beschränktem Torensinn
plump eingeflickt, wenn nicht von schnöder Hand,
für Junker, eitle Weiber zum Gewinn,
dass sie nicht glauben unter ihrem Stand –.1

In der Tat: Als ich gesucht habe, wie man all die Namen ausspricht in diesem Stammbaum, da stieß ich auf ein Angebot von EKD und Schwabenverlag. Die Schauspielerin und Religionslehrerin Caroline Piazolo habe das „Buch der Bücher“ für die Audio-Bibel eingesprochen. Mit Genehmigung der Deutschen Bibelgesellschaft in Stuttgart und dem Schwabenverlag Ostfildern könne die Audio-Datenbank für private Zwecke kostenlos genutzt werden, hieß es. Super, dachte ich. Allein – die gesamte Bibel fängt dort mit Mt 1,18 an.

Eine Missachtung des Stammbaums Jesu? Ja, warum eigentlich ein Stammbaum? In meiner Jugend konnte ich der Ahnenforschung wenig abgewinnen. Rückwärtsgewandt schien es mir. Ich bin, was ich bin, dachte ich.

Ja eben, würde ich heute sagen. Ich bin, was ich bin, aber ich komme nicht aus dem Nichts. Vor ein paar Wochen wurde im Rahmen einer Tagung ein alter Weggefährte interviewt, der oft dafür belächelt wurde, dass er für die Gesellschaft, deren Geschäftsführer er einige Jahrzehnte war, ein Archiv aufgebaut hat. Nicht wenige finden, dieses Archiv sei nur ein Klotz am Bein, die Büroräume, die man dafür mieten müsse, zu teuer. Wozu ein Archiv? Die junge Interviewerin fragte ihn genau das: „Warum ist Ihnen das Behüten und Bewahren von Geschichte so wichtig?“ Er antwortete: „Man muss zu den Gründungsvätern zurückgehen und sie nicht auf die Seite schieben, denn sie haben uns ja etwas mitgegeben. Wir müssen nur was draus machen. Wir müssen verstehen, woher wir kommen und wohin wir vielleicht gehen wollen. Das ist nichts Rückwärtsgewandtes, sondern eröffnet einen Raum für Bewegung und Entwicklung. Das kann ich aber nur nur pflegen und wahrnehmen, wenn ich weiß, woher ich komme.“

Ich stelle mir vor, dass auch Matthäus so einer war, der die Geschichte behüten und bewahren wollte. Er dachte vielleicht auch: Wenn ich nicht weiß, woher ich komme, kann ich die Zukunft nicht gestalten. Und deshalb fing Matthäus nicht wie Lukas mit der Ankündigung der Geburt Johannes des Täufers an, nicht wie Markus mit der Taufe Jesu durch Johannes den Täufer, nicht wie Johannes mit einer theologischen Abhandlung, wie das Wort Fleisch wurde. Sondern er fängt an mit einem Stammbaum.

 

[Fünf Frauen in Jesu Stammbaum]

Der hat hier und da ein paar Unebenheiten. Schlaue Leute vermissen drei der israelitischen Könige oder rätseln über die Frage, warum das nun Josefs Stammbaum ist, aber Josef als Vater Jesu sonst keine Rolle spielt, manche haben auch nachgezählt und sagen: Nein hier, da sind es nur 13 Generationen und nicht 14. Und schließlich: Warum enthält der Stammbaum neben Maria vier weitere Frauen, nun aber gerade nicht die Erzmütter Sara, Rebekka, Rahel? Sondern Tamar, Rahab, Ruth und Bathseba, die Frau Urias?

Wundern Sie sich nicht, wenn Sie die vier nicht kennen. Tamar war nacheinander mit mehreren Söhnen Judas verheiratet, alle starben, bevor ein Kind geboren wurde. Und nach den damaligen gesetzlichen Regelungen, nach denen die Witwe eines Mannes, der kinderlos stirbt, nicht unversorgt bleiben darf, sondern von ihrem Schwager geheiratet werden muss, nach diesen Regelungen hätte der Schwiegervater Juda seine Schwiegertochter Tamar auch mit seinem letzten Sohn verheiraten müssen. Tat er aber nicht und Tamar verschafft sich ihr Recht auf eine etwas unmoralische Weise: Sie verkleidet sich als Prostituierte, Juda ergreift auf einer Geschäftsreise diese Gelegenheit, lässt ihr seinen Ring da, damit sie ein Pfand hat bis zur Bezahlung und muss am Ende Abbitte tun und ist also der Vater der Zwillinge Perez und Serach.

Rahab ist ganz sicher eine Nicht-Israelitin, nämlich eine kanaanäische Prostituierte, die loyal zu denen war, die unter Josuas Führung Kanaan eroberten. Sie und ihre Familie werden bei der Einnahme und Zerstörung Jerichos verschont werden. Rut ist eine Frau aus Moabit, auch eine Nicht-Israelitin, die nach dem Tod ihres Mannes ihre Schwiegermutter zurück in deren Heimat begleitet und durch glückliche Fügung und mit etwas Nachhilfe Boas heiraten kann, einen entfernten Verwandten. Und schließlich Bathseba, die von König David in den Palast bestellt wird, weil er sie von seinem Dach aus hat baden sehen. Dass sie verheiratet war, hat ihn nicht gestört; es wird erst zum Problem, als Bathseba schwanger wird und jedermann weiß, dass ihr Mann im Kriegsdienst ist und also nicht der Vater sein kann. David lässt den Mann an die Front versetzen, Bathseba wird Witwe, David kann sie heiraten und das Kind, das geboren wird, kommt halt etwas früher auf die Welt als erst nach neun Monaten.

Und Maria? Warum steht hier nicht der Stammbaum Marias, sondern der Stammbaum Josefs? Man kann darauf nur sagen: Es war offenbar kein Problem für Matthäus, Josef nicht als Vater Jesu anzusehen. Er musste das nicht mal großartig auseinanderdividieren: wer nun der biologische Vater, wer der Ziehvater, wer der rechtliche Vater ist… Und wir müssen das deshalb auch nicht klären. Jesus ist der Sohn Gottes, der Sohn Josefs, der Sohn Davids, der Sohn Abrahams.

Nach diesen biblischen Geschichten (die von Tamar, Rahab und Bathseba stehen nicht in Kinderbibeln) könnte man in der Tat fragen: Was hat es mit einem solchen Stammbaum auf sich?

 

[Wo kommen wir her?]

„Wir müssen verstehen, woher wir kommen und wohin wir vielleicht gehen wollen.“ Das war die Begründung für ein Archiv. Woher kommt Jesus? Nach Matthäus sind in seinen Stammbaum nicht nur Israeliten eingewoben, sondern auch Frauen aus den Völkern. Wer Interesse an „Blutlinien“ hat, wird hier nicht bedient.

Abraham und David gehören zu Jesu Ahnen. Bei David schwingt die jüdische Vorstellung mit, dass der Messias aus dem Hause Davids kommt, die Sehnsucht nach einem in der endgültigen Heilszeit wiedererrichteten und dann ewigem Königtum hängt daran. Dass David anders als sein späterer Sohn und Nachfolger Salomo moralisch nicht ganz integer war, stört nicht. Moralisch integer – das sind viele Gestalten in der Bibel nicht: Männer wie Frauen. Gott macht seine Geschichte mit denen, die da sind. Manche sind gottwohlgefällig, aber die ganze Bibel ist voll von Geschichten fehlbarer Menschen. Gott bedient sich ihrer trotzdem. Es kennt der Herr die Seinen. Und liebt sie trotzdem. Gnädig und barmherzig ist der Herr, geduldig und von großer Güte. Woher kommt Jesus? Aus dem Hause Israel. Das ist die Kurzfassung.

 

[Wo wollen wir hin?]

Und wohin wollen wir mit diesem Jesus vielleicht gehen? Für das Christentum hören mit Jesus die Stammbäume auf. Wer sagt, Abraham sei der Vater aller drei Religionen – Judentum, Christentum und Islam –, der kann das nur im übertragenen Sinne sagen: Abraham als vorbildlich Glaubender. Das Christentum kann sich nicht auf Stammbäume berufen. Das ist eigentlich eine moderne Idee: Ich bin ich. Unser Sein als gläubige Christen hängt nicht daran, dass wir von irgendwoher abstammen. Wir sind Hinzugekommene. Wir hängen nicht an Stammbäumen, wir hängen an Jesu Ideen vom Reich Gottes, wir teilen einen Glauben, wir haben Vorbilder in diesem Glauben. Paulus hat mal gesagt: Christen sind wie die Äste an einem Ölbaum, die später von Gott aufgepfropft wurden. Wir haben Anteil an der Wurzel, an Abraham, an David, an den Hoffnungen des Judentums. Und sind in diesem Sinne die Erwählten aus der zweiten Reihe. Wie gut, dass es diese zweite Reihe gab. Vergessen wir also unsere Wurzeln nicht, damit wir wissen, wo Jesus herkommt und wohin wir mit ihm gehen.

Amen.

 


Bärbel Husmann