Zweifeln gehört zum Glauben

Predigt über die Jahreslosung 2020 von Georg Rieger (auch zum Anhören)

Mk 9, 24


Mosaik aus Mystras/Sparta/Griechenland © G. Rieger

Der Vater eines kranken Jungen lässt sich von Jesus nicht beirren und prägt einen Satz, der theologisch weise ist und gut in unsere Zeit passt.

Liebe Gemeinde, die Losung für das Jahr 2020 steht im Evangelium des Markus im 9. Kapitel Vers 24 und besteht aus zwei ganz kurzen Sätzen. Und in der Geschichte, aus der diese Sätze stammen, werden sie geschrien: „Ich glaube! Hilf meinem Unglauben!“ Es ist der Vater eines Knaben mit epileptischen Anfällen, der seiner Verzweiflung Ausdruck gibt und gleichzeitig etwas sehr Nachdenkenswertes ausruft. Und so kommt es, dass die Jahreslosung kein frommes Jesus-Wort ist, sondern eine wütende Reaktion auf Jesus. Das ist uns für 2020 mit auf den Weg gegeben: „Ich glaube! Hilf meinem Unglauben!“

Die Geschichte um diesen Spruch herum ist eine sehr facettenreiche Erzählung, von der ich nur einen Aspekt erwähnen will, nämlich den, der zu diesem emotionalen Ausbruch führt: Die Jünger hatten es schon versucht, den Knaben zu heilen und wahrscheinlich davor schon andere. Doch die Anfälle blieben und waren zum Teil lebensgefährlich. Vor den Augen Jesu passiert es nun ein weiteres Mal, dass „der Geist“ von dem Jungen Besitz ergreift, ihn schüttelt und zu Boden wirft.

Doch dann spricht der Vater des Jungen Jesus erst auf die vergeblichen Heilungsversuche seiner Jünger an und sagt dann: „Wenn du etwas vermagst, so hilf uns und hab Mitleid mit uns.“ Jesus reagiert auf diese Ansprache leicht säuerlich mit den Worten: „Was soll das heißen: Wenn du etwas vermagst?“ Und fügt einen Satz dazu, der aus einem dieser unsäglichen Lebensratgeber stammen könnte: „Alles ist möglich dem, der glaubt.“ Auf diesen Satz reagiert nun der Vater mit einer Mischung aus Wut und Verzweiflung – und wie ich finde aus verständlichem Grund. Denn, was Jesus da von sich gibt, ist seelsorgerlich eine Unverschämtheit. Einem so verzweifelten Mann kann man doch nicht auf den Kopf zu sagen, dass seinem Sohn bisher nicht geholfen wurde, weil er oder die früheren Helfer nicht genug geglaubt haben.

Es geht eben noch eine weitere Begebenheit voran, nämlich die, in der sich Jesus über seine Jünger aufregt, als er von deren vergeblichen Heilungsversuchen hört. Da poltert er los: „Du ungläubiges Geschlecht! Wie lange muss ich noch bei euch sein? Wie lange muss ich euch noch ertragen?“

Was ist das eigentlich für ein Ton? Redet so einer, der das Reich Gottes verkünden und die Liebe in die Welt bringen soll? Gehen wir mal davon aus, dass Jesus an diesem Tag zwar vielleicht auch mit dem falschen Fuß aufgestanden ist und deshalb so schlechte Laune hatte. Aber die Geschichte wäre durch die Weitererzählung ganz bestimmt beschönigt worden, wenn diese Zuspitzung nicht einen Zweck erfüllen würde; wenn darin also nicht auch eine Botschaft stecken würde, die sich an uns heute richtet. Tatsächlich fehlt der Disput mit dem Vater in den beiden anderen Evangelien, die die Geschichte von der Heilung des Jungen auch erzählen. Im Matthäus-Evangelium endet sie mit dem schönen Sinnspruch, dass der Glaube Berge versetzen kann und bei Lukas mit einem Lob auf die Heilungskräfte Jesu. Die beiden anderen Fassungen der Geschichte nehmen ihr also diese Schärfe, die uns heute beschäftigen soll. Da der Evangelist Markus der älteste ist, ist er aber am nächsten an der wahren Begebenheit dran. Und so bleibt die Frage: Was regt Jesus an seinen Jüngern so auf und warum muss sich der Mann mit dem kranken Sohn anhören, dass Glauben alles möglich macht. Warum macht Jesus beim Thema Glauben solchen Druck? Das fragen wir uns insbesondere als Protestanten, die wir seit der Reformation in den Vordergrund stellen: Glauben wird mir geschenkt. Er ist keine Leistung, die mir abverlangt wird. – Was ist da also los mit Jesus?

Beim Lesen ein paar Kapitel davor und danach fällt auf: So ganz unvermutet kommt der doppelte Ausraster von Jesus dann doch nicht. Im Markus-Evangelium steht Jesus selbst unter Druck. Er hat einen Auftrag zu erfüllen und nicht viel Zeit. Und er ärgert sich öfter über seine Jünger, dass sie nicht begreifen, was Gott von ihnen will. Die Spannung in der Geschichte ist also bewusst so erhalten. Und ebenso bewusst stellt sie Jesus nicht ins beste Licht. Er zeigt Emotionen, er provoziert und verhält sich nicht staatsmännisch oder gar heldenhaft. Das ist das Bild des Evangelisten von Jesus, das er malen will: Der Gesandte Gottes scheut nicht den Konflikt und haut sogar auch mal daneben. Was der Geschichte ja nicht schadet, sondern sogar nützt. Denn es bleiben so am Ende der Geschichte zwei Sätze in Erinnerung, die so ambivalent wie großartig sind.

II.

Warum sie mich so ansprechen, das will ich Ihnen im zweiten Teil dieser Predigt sagen. Und zwar mit der zusätzlichen Ansage, dass sich in diesen Sätzen die ganze theologische Weisheit unserer menschlichen Existenz verbirgt. Der Vater schreit in seiner Verzweiflung etwas in die Welt hinaus, das diese Welt hören und beherzigen sollte. Und es ist auch wichtig festzuhalten, dass es ein Widerspruch zu dem Satz ist: Alles ist möglich dem, der glaubt.“

Dass der Glaube Berge versetzen kann, wie es am Ende der Geschichte im Matthäus-Evangelium heißt, ist zwar im übertragenen Sinn richtig. Aber es ist anderseits eben noch nie ein Berg tatsächlich versetzt worden durch Glauben. Und genauso wie wir durch positive Gedanken und durch Vertrauen immer wieder Großartiges erleben, werden wir auch immer wieder enttäuscht: Leid und Kummer sind immer wieder genau dort, wo sie gar nicht hingehören. Und so leben wir Menschen zwischen der Zuversicht, dass wir Vieles bewegen können und der Erfahrung, dass wir oft damit scheitern.

Die Kommission der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen, die Jahreslosungen aussucht, hat sich sicherlich etwas dabei gedacht, genau diesen Spruch dem Jahr 2020 zu widmen. Gemeinhin wird ja gesagt, dass wir in einer glaubensarmen Zeit leben. Die Kirchen werden leerer, die Kirchenmitglieder weniger. Passt der Aufschrei vielleicht deshalb besonders gut in unsere Zeit? Nach dem Motto: Hilf uns gegen den um sich greifenden Unglauben, Gott!

Auf der anderen Seite sind die Menschen ja unglaublich bereit zum Glauben. Was heute nicht alles geglaubt wird! Verschwörungstheorien sind längst keine Angelegenheit für Spinner mehr, sondern sind immerhin am rechten Rand der Gesellschaft angekommen und finden dort weiter Verbreitung. In den sozialen Medien reicht es, Meinungen damit zu begründen, indem man schreibt: „Ich glaube das.“

Irgendetwas zu glauben, ist also nicht schwer. Und es scheint uns Menschen mitgegeben, dass wir es gerne tun. Der Grund dafür ist, dass wir auf der Suche nach Sicherheit sind. Und wenn wir etwas glauben können, dann fühlen wir uns sicher. Deshalb haben alle Glaubensangebote viel von dieser vermeintlichen Sicherheit zu bieten: auf alle Fragen vorgefertigte Antworten, ein klares Weltbild und meistens eine klare Abgrenzung zu anderen Anschauungen. So lassen sich dann auch alle Dinge, die passieren, schnell einordnen. Entweder es passt ins Weltbild oder nicht. Deshalb ist es umso mehr besonders, was zwischen Jesus und dem Mann passiert und wie sie über den Glauben reden. Jesus vertritt zwar anders als sonst die traditionelle Sicht. Er sagt eben diesen Satz, der ja nicht einmal spezifisch christlich ist, sondern aus jeder Religion und Weltanschauung stammen könnte: Glauben muss stark sein, dann hilft er auch.

Was aber dann folgt, sprengt diese normale Sicht des Glaubens. „Ich glaube! Hilf meinem Unglauben!“ – das spricht eine andere Sprache, das offenbart eine Verletzlichkeit, das ist eine gleichzeitig selbstbewusste wie suchende Haltung, die der Vater da einnimmt. Und diese Haltung soll uns zu denken geben. Denn damit wird dem Glauben und unserer Glaubensfähigkeit genau die Gnade zuteil, die Jesus im Auftrag Gottes in die Welt bringt. Glauben ist keine Leistung, nichts, was von uns verlangt wird, sondern ein Geschenk. Etwas, um das wir bitten können. Von dem wir zwar sagen dürfen, dass wir es tun: „Ich glaube!“, das wir aber immer mit der Bitte um Hilfe verbunden sehen: „Hilf meinem Unglauben!“ So ist der Glaube immer ein suchender und nie ein wirklich sicherer. Gott sicher sein kann sich aber niemand. Das konnte schon Mose nicht und keiner der Propheten. Es ist das Wesen Gottes, dass er uns zwar nahekommt, wir ihn aber nicht zur Verfügung gestellt bekommen, um mit ihm zu machen, was wir wollen. Genau dieses wollen uns manche freilich weismachen, die sich ihres Glaubens wohl sicher wähnen. Es ist die ewige Versuchung, doch zu wissen, was Gott will und was er vorhat.

III.

In den letzten Wochen ist ja einige Kritik auch von Theologen an der Klimaschutzbewegung laut geworden, die darauf zielt, die jungen Leute auf der Straße wie auch die älteren Fürsprecher des Protests an ihr Gottvertrauen zu erinnern. Hysterie und Panikmache waren die deutlichsten Worte. Doch es gab auch eleganter vorgetragene und seelsorgerlich getarnte Kritik in diese Richtung: Nehmt Euch nicht so wichtig und vertraut auf Gott, dass er die Welt vor dem Untergang bewahren wird. Anders gesagt: Wer angesichts der Klimakrise panisch wird, glaubt nicht fest genug, traut Gott nicht zu, dass er heilen kann, was wir Menschen zerstören. Im Lichte der Jahreslosung ist diese Kritik ein glattes Eigentor. Denn sie will die berechtigte Sorge um die Zukunft unseres Planeten als glaubensarme Ängstlichkeit lächerlich machen. Wie Jesus den kranken Jungen am Boden erstmal zappeln lässt und eine Diskussion vom Zaun bricht, wer nicht genug geglaubt hat, so sollen wir uns jetzt darüber streiten, ob Protestierer lieber beten als streiken sollen.

Nein! Genau das nicht! Das Zweifeln und das Verzweifeltsein ist keine Glaubensarmut, sondern gehört zum Glauben dazu. Und wenn dringendes Handeln erforderlich ist und die wirklich Betroffenen das einfordern, dann ist es eine Unverschämtheit, ihnen mangelndes Gottvertrauen zu diagnostizieren. Glauben heißt eben nicht, an das Gute im Menschen glauben und auf die Möglichkeiten der Technik vertrauen. Und es heißt auch nicht, Gott die Rettung der Welt zu überlassen und von ein paar kleinen Korrekturen abgesehen einfach weiter zu machen. Glauben heißt suchen, um Hilfe bitten und Hilfe einfordern. Gott gegenüber und den Mitmenschen gegenüber, wenn das – wie in diesem Fall – Teil des Problems ist.

Glauben im Sinn dieser Geschichte im Markusevangelium ist kein Wettbewerb in Sachen Glaubensstärke. Glauben ist das Annehmen eines Geschenks, das Wahrnehmen des Geschenkten und die immerwährende Bitte darum. Weil der Glaube auch nicht einzufangen und zu konservieren ist, sondern sich ständig neu erfinden muss, sich mit Gott auseinandersetzen muss und sich seiner eigenen Grenzen bewusst werden muss.

Das hört sich, liebe Gemeinde, alles sehr abgehoben an. Gibt es denn nichts Wichtigeres, was aus dieser Geschichte hervorgeht, zum Beispiel der geheilte Junge. Ja und nein. Denn natürlich ist das das Wichtigste, dass am Ende der Junge aufsteht und geheilt ist. Doch damit das nicht der letzte geheilte Junge bleibt, braucht es eben mehr von diesen Vätern. Ja es braucht mehr von diesen Männern und Frauen, die selbst einem wie Jesus die Stirn bieten. Ein paar Kapitel vorher ist es übrigens eben eine solche Frau, die das tut und ihre Tochter geheilt bekommt. Auch sie hat verstanden haben, was Glauben heißt – nämlich auf jeden Fall nicht klein beigeben! Sondern bitten und danken und den eigenen Glauben immer wieder hinterfragen.

„Ich glaube! Hilf meinem Unglauben!“ Liebe Gemeinde, um so reden zu können, muss man nicht studiert haben oder ganz fromm sein. Jede und jeder kann das verstehen, was Gottes Liebe ganz konkret im Leben bedeutet. Gottes Liebe macht frei von Anforderungen und Druck. Sie mach frei, in jeder Situation sagen zu können: Ich glaube an dich, Gott. Aber bitte hilf mir, mit meinen Zweifeln und meinen Schwächen umzugehen! Amen!