corona de spinis

Unfertige Aus- und Zurechtlegungen zu Karfreitag im Corona-Jahr


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Predigt von Jürgen Kaiser

Alle aber, die ihn kannten, standen in einiger Entfernung, auch die Frauen, die ihm aus Galiläa gefolgt waren, und sahen alles. (Lk 23,49)

Manches kann man nur aus einiger Entfernung ertragen. Dass Jesus hingerichtet wurde, außerhalb der Stadt, wie ein Verfluchter, wie ein Infizierter. Abstand halten. Er war gezeichnet mit einer corona de spinis, wie die Krone aus Dornen in der lateinischen Bibel heißt. (Mt 27,29, Vulgata) Was soll all das bedeuten?

Eigentlich bin ich froh, dass ich in diesem Jahr nicht an Karfreitag predigen muss. Dass ich Abstand halten kann. Nicht Abstand zur Gemeinde, aber Abstand zum Geschehen. Auf der Kanzel spüre ich an Karfreitag immer einen Druck, etwas zu erklären, diesem Geschehen, das wir in einer Entfernung mitansehen, wenn der Bericht seiner Kreuzigung vorgelesen wird, einen Sinn zu geben. Eigentlich sollte ich nach der Ordnung der Predigttexte in diesem Jahr über ein paar lehrhafte und sinnstiftende Sätze des Paulus aus dem zweiten Korintherbrief predigen. Etwa über diesen Satz: Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. (2. Kor 5,19) Oder diesen: Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt. (2. Kor 5,21) Ehrlich gesagt: Ich weiß nicht, was diese Sätze in diesem Jahr bedeuten sollen. Deshalb bin ich froh, dass ich davon Abstand nehmen und mich von ihnen fernhalten kann.

Es ist eine traurige Zeit. Nicht so sehr, weil wir auf vieles verzichten und Abstand halten müssen, sondern weil so viele sterben. Doch anders als in anderen schlimmen Zeiten, anders als sonst, wenn es viele „Opfer“ gibt, sucht jetzt keiner nach Schuldigen. Selbst nach Erdbeben sucht man nach denen, die schuld daran sind, dass keine erdbebensicheren Häuser gebaut wurden. Doch in dieser Corona-Krise, die schlimmer ist als viele anderen Krisen und Katastrophen, sucht niemand nach Schuldigen. Wir nehmen es hin und versuchen, das Beste draus zu machen.

Ich finde das sehr angenehm. Man hat ja sonst den Eindruck, es läge in der Natur des Menschen, für jedes Opfer einen Schuldigen finden zu müssen. Es geht offenbar auch anders. Nur einer kann nicht anders, der kleingeistigste Mensch, der je im Weißen Haus saß (alle Sekretärinnen, Wachleute und Hausmeister mit eingerechnet). Er kann nicht anders, als für alles Negative anderen die Schuld zu geben und alles Positive sich selbst zuzuschreiben. Jetzt ist die WHO an allem schuld. Schon Zwölfjährige haben ein differenzierteres Weltbild als der amerikanische Präsident. Aber er und ein paar homophobe Fundamentlisten aus allen Religionen sind die einzigen, die Schuldige an der Pandemie suchen und finden. Die allermeisten Menschen können diesem primitiven Reflex widerstehen und werden mit der Erfahrung einer globalen Solidarität belohnt: Wir erleiden alle weltweit das gleiche Schicksal, helfen einander und lernen voneinander.

In einem geheimnisvollen Text aus dem Buch des Propheten Jesaja über einen Leidenden, der in den Karfreitagsgottesdiensten gelesen wird, steht: Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet. Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. (Jes 53,3-4)

Wir stehen in einiger Entfernung und schauen auf ihn. Für wen halten wir ihn? Warum wurde er geschlagen? Warum wurde er getötet? Für wen wurde er getötet? Und was hat das mit dieser Corona-Krise zu tun, was mit den Kranken und mit den Sterbenden? Und warum trägt er eine Krone aus Dornen und warum heißt die auf Lateinisch corona de spinis?

Vielleicht muss man in diesem Jahr erst mal etwas Abstand gewinnen, sich fernhalten von allen eilfertigen Deutungen. Man kann sich nicht auf alles gleich einen Reim machen. Man muss es auch nicht.

Ich bin traurig, weil heute Karfreitag ist. Ich bin traurig, weil wir heute nicht zum Gottesdienst zusammenkommen können. Aber ich bin froh, dass ich nicht predigen muss, nicht über die Zurechnung von Sünden, nicht über stellvertretende Sühne, nicht über rechtfertigungstheologische Kreuzesdeutungen, nicht über das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trug, nicht in diesem Jahr über all dies, allenfalls über den Schmerzensmann, der unsere pandemische Krankheit trug. Doch nach allem, was die Virologen lehren, bleibt kaum zu hoffen, dass allein der Glaube zur Gemeinschaft der ersehnten Herdenimmunität führt.

Es will mir einstweilen noch nicht gelingen, mir einen Reim auf all das zu machen. Ich brauche noch etwas Abstand. Ich muss wohl erst sehen, wie es ausgegangen ist. Ostern muss erst kommen. Und es kommt in diesem Jahr später, als im Kalender steht. Es kommt, wenn das Leben wieder blühen darf. Mitten drin und ohne Abstand.

Für heute genügt mir die Entdeckung der corona de spinis. Es gibt Zufälle, die sind zu treffend, dass man sich gar nicht vorstellen kann, dass sie nichts zu bedeuten hätten. Was es aber zu bedeuten hat, weiß ich (noch) nicht. Immerhin setzt es dem ganzen Geschehen an diesem merkwürdigsten aller bisherigen Karfreitage die Krone auf. Das tröstet mich. Es kann ja passieren was will – am Ende ist alles schon irgendwie und irgendwo in Gottes Wort mitbedacht und aufgehoben. Längst bevor es geschieht. Man muss nur suchen und wird finden. Auch das ist tröstlich. Amen.

Am Ende gibt es nichts Besseres als zu beten. Wenn Sie an diesem besonderen Tag etwas Karfreitägliches tun wollen, dann stellen Sie sich um 15 Uhr, zur traditionellen Sterbestunde, in einiger Entfernung zu allen Geschehen um Sie herum irgendwo abseits hin oder ziehen sich in ein Kämmerlein zurück (Mt 6,6), wo Sie auch ohne Mundschutz beten können und beten, wenn Sie mögen mit folgenden Worten:


Allmächtiger Gott,

zu dir will ich beten, heute, am Todestag von Jesus Christus.

Ich will beten für die Vielen, die auch heute sterben, für die vielen, denen keiner mehr helfen kann und für die, denen sie die Beatmungsgeräte wegnehmen müssen, um sie den Jüngeren zu geben. Lass sie nicht so gottverlassen aus der Welt gehen, wie dein Sohn gottverlassen gehen musste. Hol sie aus der Finsternis zu dir, in das Licht, in die Luft, in das Leichte, das bei dir ist, wie du deinen Sohn geholt hast in das Leben, das bei dir ist.

Ich will beten für die Ärzte, wenn sie furchtbare Entscheidungen treffen müssen. Lass sie nicht irre werden, hilf ihnen, das durchzustehen, ohne Schaden an der Seele zu nehmen.

Ich will beten für alle Schwestern und Pfleger in den Krankenhäusern und in den Pflegeheimen. Gib ihnen Kraft und Ausdauer und sei du ihr Schutz, ihre Maske, ihr Mantel, ihre Haube, das Kleid, das sie schützt.

Ich will beten für alle, die ihren Rhythmus verloren haben, die nicht zurechtkommen mit den Einschränkungen, die ihr Leben nicht neu ordnen können, denen die Decke auf den Kopf fällt. Halte sie fest, dass sie nicht fallen, hauche sie an mit deinem Geist, dass sie etwas mit sich anzufangen wissen und auf Ideen kommen, die Zeit zu nutzen.

Zu dir will ich beten und dir danken, dass du mich gnädiglich bis hierher behütet und bewahrt hast und bitte dich für alle, die mir lieb und mir anvertraut sind: Behüte und bewahre auch sie.

Zu dir will ich beten und dich bitten: Hilf uns, das Virus zu bekämpfen. Dann will auch ich dich loben und achtsamen mit meinem Leben umgehen und mit allem, was ich zum Leben brauche.

Auch an diesem Tag, auch zu dieser Stunde, auch in dieser Zeit will ich dich loben: Du bist der allmächtige Gott, der Ewige, der Herr über Leben und Tod. Du bist der barmherzige Gott, der Bund und Treue hält und uns nicht aufgibt.

[evtl. eigene Bitten]

Unser Vater im Himmel, …


Jürgen Kaiser