Evangelium radikal: Vom Joch des Himmelreichs

Predigtmeditation zu Markus 8,31-38 - Estomihi


"Die Wendung „sein Kreuz auf sich nehmen“ (bzw. „tragen“) taucht in der rabbinischen Literatur einmal an prominenter Stelle auf, und zwar in einer Auslegung zur Erzählung von der Fesselung Isaaks (Gen 22)" - Motiv aus dem Krakauer Talmud-Druck von 1605.

Im christlich-jüdischen Kontext

1. Annäherung

Ob die Freudenbotschaft vom Messias Jesus (Mk 1,1) wirklich gute oder nur angenehme Botschaft ist, ob sie bloß die Sehnsucht nach gelingendem Leben bedient oder Menschen auch in Dienst nimmt für das, was im Leben und im Sterben trägt, das war im Markusevangelium bis zu dieser Stelle noch nicht eindeutig zu erkennen. Jesu Worte und Taten, Zeichen des nahe gekommenen Gottesreichs, sind, für sich genommen, weithin von tiefer Ambivalenz umgeben: Alle Schweigegebote (1,34.44; 3,12; 5,43; 7,36) können nicht verhindern, dass sich die Nachricht von seinen Wundern ausbreitet wie ein Lauffeuer und ihm Scharen von Menschen zuführt, die für sich selber schlicht die Stillung ihrer Bedürfnisse (Heilung, Sättigung, Trost) von ihm erhoffen. Und seinen Kritikern aus den strengeren Kreisen, die ihn nur punktuell kennen, ist es nicht von vornherein zu verübeln, wenn sie ihn verdächtigen, ein Scharlatan zu sein, der uneinlösbare Versprechungen macht und die ohnehin schon bedrückende gesellschaftliche Lage durch das vorhersehbare Platzen der von ihm geweckten Hoffnung zusätzlich erschwert. Mithin lässt sich im ersten Teil des Markusevangeliums noch nicht eindeutig ausmachen, ob Jesus in religiösem Populismus oder wirklich in göttlicher Vollmacht handelt, ob er für Evangelium ‚light’ oder für etwas ganz anderes steht.

Dies ändert sich am Beginn des zweiten Markusteils, und zwar vom Evangelium zu Estomihi ab. Der Leidensweg Jesu kommt nun erstmalig explizit in den Blick, und damit wird deutlich, dass die Botschaft von der Königsherrschaft Gottes in seinem Mund mehr und anderes meint als ein volltönendes Harmonieversprechen an die Massen, weil der Bote und Bringer dieses Gottesreichs den gewaltlosen Weg ins tiefste Leiden und den schmählichsten Tod auf sich nehmen wird und so mit seiner ganzen Existenz dafür einsteht, dass auch die Abgründe menschlicher Bosheit und Verblendung die, die Gott treu sind, nicht aus seiner Hand reißen und sein anbrechendes Reich nicht zunichte machen.

Die bloße Ankündigung dieses Leidensweges freilich genügt, um selbst Jesu engste Vertraute in fassungslose Bestürzung zu versetzen. Er jedoch stellt klar, dass dieses Schicksal nicht allein ihm selber, sondern allen, die ihm nachfolgen, zuzumuten sein muss – und dass dies dem Evangelium vom Gottesreich nicht nur nicht widerspricht, sondern es gerade in seiner ganzen Tragweite beglaubigt und zum Leuchten bringt. Pointierter lässt sich kaum sagen, dass Jesus nicht Evangelium ‚light’, sondern ‚Evangelium radikal’ vertritt: eine Botschaft, die sich auch in der Konfrontation mit dem Bösen und dem Tod als wirklich und letztlich gute, Leben im Vollsinn erschließende Botschaft erweist.

Kontexte

Die Wendung „sein Kreuz auf sich nehmen“ (bzw. „tragen“) taucht in der rabbinischen Literatur einmal an prominenter Stelle auf, und zwar in einer Auslegung zur Erzählung von der Fesselung Isaaks (Gen 22), die über Jahrhunderte zu einem wichtigen Bezugspunkt jüdischer Märtyrerschicksale geworden ist. Zu Vers 6 („Abraham nahm die Hölzer zum Ganzopfer und legte sie Isaak, seinem Sohn, auf“) bemerkt der Midrasch (Bereschit Rabbah 56,3):

„Gleich einem, der sein Kreuz auf seiner Schulter trägt.“

Im Rahmen einer längeren Auslegung zum Größten Gebot, dem „Schma Jisrael“ (Dtn 6,4f., vgl. Mk 12,29f.), überliefert der Babylonische Talmud, Berachot 61b, folgende Legende vom Martyrium des großen Rabbi Aqiba (im Zusammenhang der hadrianischen Verfolgungen nach dem Bar Kochba-Krieg, ca. 135 n. Chr.):

Es lehrten unsere Meister: Einst hatte die ruchlose Regierung ein Dekret erlassen, dass sich Israel nicht mit der Tora befassen dürfe. Da kam Pappos ben Jehuda und traf R. Akiva, wie er öffentlich Versammlungen abhielt und sich mit der Tora befasste. Da sprach er zu ihm: „Akiva, fürchtest du dich nicht vor der Regierung?“ Der erwiderte: „Ich will dir ein Gleichnis erzählen, womit dies zu vergleichen ist: Ein Fuchs erging sich einst am Ufer eines Flusses, und als er Fische sich mal hier, mal dort versammeln sah, sprach er zu ihnen: Wovor flieht ihr? Sie erwiderten: vor den Netzen, die die Menschen über uns werfen. Da sprach er zu ihnen: ‚Wollt ihr nicht aufs Trockene kommen, so dass wir, ich und ihr, beisammen wohnen, wie einst meine Vorfahren mit euren Vorfahren beisammen gewohnt haben?’ Doch sie erwiderten: ‚Du bist es, von dem man sagt, er sei das klügste unter den Tieren?! Nicht klug bist du, sondern dumm! Denn wenn wir uns schon an der Stätte unseres Lebens fürchten (müssen), um wie viel mehr an der Stätte unseres Todes!’ So auch wir – wenn es schon jetzt so ist, da wir sitzen und uns mit der Tora befassen, von der es heißt: ‚Denn das ist dein Leben die Länge deiner Tage’ (Dtn 30,20), um wie viel mehr erst (sind wir tödlich bedroht), wenn wir gehen und uns ihr entziehen!“

Man erzählte: Kaum waren wenige Tage verstrichen, da nahm man R. Akiva fest und sperrte ihn ins Gefängnis. Doch man nahm auch Pappos ben Jehuda fest und sperrte ihn mit ihm ein. Da sprach er zu ihm: „Pappos! Wer hat dich hierher gebracht?“ Der erwiderte: „Selig bist du, R. Akiva, dass du festgenommen wurdest über Worten der Tora, wehe aber Pappos, der festgenommen wurde über eitlen Dingen!“

Die Stunde, da man R. Akiva zur Hinrichtung führte, war die Zeit der Rezitation des Schma. Man zerfurchte sein Fleisch mit eisernen Kämmen, er aber nahm das Joch des Himmelreiches auf sich. Da sprachen seine Schüler zu ihm: „Rabbi, so weit?!“ Er erwiderte ihnen: „Alle meine Tage habe ich mich über den Schriftvers gegrämt: ‚[Liebe den Ewigen, deinen Gott] mit deinem ganzen Leben’, also: selbst wenn er dir dein Leben nimmt, denn ich sprach: Wann bietet sich mir die Gelegenheit, dass ich ihn zur Geltung bringe – und jetzt, da sie sich mir bietet, sollte ich ihn nicht zur Geltung bringen?“ So dehnte er (das Wort) „einzig“, bis ihm das Leben bei „einzig“ ausging. Da ertönte eine Hallstimme und rief: „Heil dir, R. Akiva, dass dir das Leben bei ‚einzig’ ausging!“ Die Dienstengel (aber) sprachen vor dem Heiligen, gelobt sei er: „Ist das die Tora, und das ihr Lohn? ‚Vor den Leuten – (rette mein Leben) deine Hand, o Ewiger, vor den Leuten usw.’ (Ps 17,14)!“ Er erwiderte ihnen: „‚Sie haben Anteil am Leben’ (Ps 17,14 Forts.). Da ertönte eine Hallstimme und rief: „Heil dir, R. Akiva, dass du bestimmt bist zum Leben der kommenden Welt!“ (nach Lenhardt / Osten-Sacken, S. 43–45, leicht geändert)

Der obige Ausdruck: „das Joch des Himmelreiches auf sich nehmen“, ist in der rabbinischen Tradition eine feste, theologisch deutende Umschreibung für: „das Höre Israel sprechen“; dazu folgende Stelle aus der Mischna, Traktat Berachot II,3:

Warum steht [auch in der liturgischen Ordnung des Morgen- und Abendgebets] das „Höre Israel“ (Dtn 6,4–9) voran, gefolgt von „Es wird sein, wenn ihr gehorcht...“ (Dtn 11,13–21)? Damit der Mensch zuerst das Joch des Himmelreiches auf sich nehme [d.h. die grundlegende Anerkennung der Einheit und Einzigkeit Gottes als des Königs der Welt vollziehe] und dann erst das Joch der [einzelnen] Gebote.

Im Sprechen des „Höre Israel“ wird also die Königsherrschaft Gottes über diese Welt – schon jetzt – bezeugt und proklamiert (vgl. Mk 1,15)!

Beobachtungen am Text

Scharfe Kontraste, ja Gegensätze bestimmen die Perikope inhaltlich wie strukturell. Der Gesprächsverlauf, bestehend aus Leidensankündigung (V 31), Widerspruch (V 32b), Abwehr des Widerspruchs (V 33) und bestätigender Überbietung (VV 34–38), hat geradezu dialektisches Gepräge – wobei Jesu Erwiderung an Petrus und die anschließende Belehrung der Menge aber nicht etwa in eine ‚Synthese’ führt, sondern die Zumutung noch radikalisiert: nicht nur der Menschensohn Jesus wird leiden und getötet werden, sondern auch die zu ihm Gehörenden müssen sich für ein ähnliches Schicksal bereithalten.

Die Perikope ist aber ihrerseits auch noch einmal spannungsvoll auf das unmittelbar vorausgehende Messiasbekenntnis des Petrus bezogen (das zum Verständnis wesentlich ist und darum, wenn schon nicht in der Lesung des Textes mit zitiert, so doch mit bedacht werden muss!). Gerade weil es von der Situation her nur schwer zum Folgenden passt (V 27 spielt in der Einsamkeit von Cäsarea Philippi, während in V 34 eine jüdische Volksmenge in Rufnähe ist), ist die markinische Absicht, beides unmittelbar zu verbinden und VV 27–30 durch 31ff. auszulegen, umso markanter. Die Perikope gewinnt so erheblich an Profil und Brisanz, denn die sie bestimmenden Kontraste beziehen sich nunmehr alle inhaltlich auf das Messiasbekenntnis zurück: erstens die Leidensansage selbst, die den vorausgesetzten, landläufigen Messiaserwartungen offenbar schneidend widerspricht; zweitens der Protest des Petrus, der – im Sinne einer triumphalen Messiashoffnung – gegen Jesu Ansage protestiert; drittens Jesu scharfes Wort („Satan!“) gegen denselben Petrus, der ihn eben noch als den Messias bekannt hat. (Das Wort epitimao, „anfahren, verwarnen“, kommt dreimal vor – in VV 30.32.33 und markiert genau die Wendepunkte der Auseinandersetzung: Übergang von Messiasbekenntnis zu Leidensansage; Protest gegen diese Ansage; Zurückweisung des Protestes.)

Eine weitere Kontrastierung entsteht dadurch, dass das Messiasbekenntnis mit strengem Schweigegebot belegt wird (V 30), während die Leidensansage „frei heraus“ ergeht (V 32). – Summa: Wer sich zu Jesus als Messias bekennen will, muss wissen, was er tut – und er tut es ggf. um einen hohen, persönlichen Preis. Kein Wunder also, dass das ‚Messiasgeheimnis’ bei Markus so wichtig ist! Zum Auftrumpfen eignet sich das Bekenntnis zum Messias Jesus, biblisch gedacht, am allerwenigsten – und wie fragwürdig steht im Licht dieser Tatsache eine Kirche da, die ihre Christologie auch und gerade gegenüber Israel eben doch Jahrhunderte lang triumphal, ja triumphalistisch zur Geltung gebracht hat!

Im Zentrum des schroffen Wechselspiels von Rede und Gegenrede, Erwartung und Enttäuschung, Schweigegebot und Proklamation leuchtet schließlich ein Stück explizites Evangelium in dem Stichwort „Leben“ auf (psychè – bei Luther in V 36f. missverständlich und den Zusammenhang verwischend mit „Seele“ übersetzt), dessen Verwendung von einer fast paradoxen Polarität bestimmt ist: Die, die ihr Leben retten wollen, werden es verlieren, und die, die es um Jesu und der Freudenbotschaft vom Gottesreich willen verlieren, werden es retten (V 35). „Leben“ erscheint hier als die Signatur dieser wie der kommenden Welt, aber in völlig gegensätzlicher Perspektive: Wer sich an sein – irdisches – Leben klammert, weil er in ihm sein Ein und Alles sieht, der wird es „verlieren“ – nämlich (vordergründig) schon durch den eines Tages auch ihm bevorstehenden Tod, darüber hinaus aber auch darum, weil, wer so auf das irdische Leben als höchstes Gut fixiert ist, die Erfüllung dieses Lebens nur verpassen kann. Worin diese Erfüllung besteht, zeichnet sich in der Umkehrung ab (V 35b): Wer sein irdisches Leben einsetzen und hingeben kann, weil es für ihn seinen Sinn nicht in sich selber, sondern in der Treue zum Ruf Jesu, im Einstehen für das Königtum Gottes hat, wird erfahren, dass er auf diesem Weg nicht ins Bodenlose stürzt, sondern durch den Tod hindurch geborgen ist in Gottes Hand, bewahrt zu einem „Leben“ in Seinem Licht (sachlich, wenn auch nicht sprachlich aufs engste benachbart ist hier Röm 8,31ff.!).

Die Parallele in der oben zitierten Legende von Rabbi Aqibas Martyrium fällt hier besonders ins Auge: Weil Aqiba durchdrungen ist von dem Wissen, was wirklich und eigentlich „Leben“ ist: nämlich Dasein im Raum des Gotteswortes als des einen, wahren Lebenselements, darum kann er sein Dasein in Gottes Hand zurückgeben, wenn er und andere verlockt werden sollen, es nur um den Preis zu erhalten, dass sie ihr Lebenselement, die Tora, verlassen. So liebt er Gott „von ganzer ‚Seele’ (nefesch, entspr. psyché)“, indem er seine ‚Seele’ ganz hergibt für Ihn. Er „verliert sein Leben“ um des Reiches Gottes willen, bis zum letzten Atemzug Zeugnis ablegend für die Einzigkeit Gottes als des Königs der Welt. Und da wird ihm und den Umstehenden eröffnet, dass er, der sein Leben hingab, weil er an der Quelle des Lebens haftet, teil bekommt am Leben der kommenden Welt.

Das „Joch des Himmelreichs und der Gebote auf sich nehmen“ – mit dieser Wendung wird in der rabbinischen Tradition der Sinn und Auftrag jüdischen Lebens zusammengefasst. Israel ist Zeuge Gottes in der Welt, indem es Gottes alleiniges „Königtum“ proklamiert und sich mit seinem ganzen Leben dem Willen Gottes unterstellt; dieses Lebenszeugnis verwirklicht sich nicht erst im Martyrium, aber es kann – Rabbi Aqibas Weg zeigt es – bis zum Martyrium gehen. Das Annehmen des Jochs des Himmelreiches geschieht hier in höchster Dramatik und Intensität. Und darin berührt sich die Aqibalegende ein weiteres mal mit dem Evangelium. Denn auch in Jesu Forderung, das Kreuz auf sich zu nehmen, geht es – wie sein eigenes Schicksal deutlich macht – um Martyrium. „Sein Kreuz auf sich nehmen“ wäre als Ausdruck für das je eigene, individuelle Leidensschicksal eines Menschen (etwa im Sinne der Redewendung „Jeder hat sein Päckchen zu tragen“) viel zu harmlos und irreführend verstanden.

Jesus redet nicht in existenzialistischer Allgemeinheit, sondern sagt denen, die sich zur Nachfolge bereit machen wollen, auf den Kopf zu, dass sie damit den einschneidenden Verzicht auf erstrebenswerte Lebensmöglichkeiten auf sich nehmen, ja, den Rebellentod am Kreuz riskieren: letzteres offenbar darum, weil die Botschaft von der Königsherrschaft Gottes in der Radikalität, in der Jesus sie vertritt (auch ohne zelotische Gewaltsamkeit), mit dem römischen Weltherrschaftsanspruch über kurz oder lang kollidieren muss. Die staatlichen Christenverfolgungen der frühkirchlichen Zeit belegen auf ihre Weise, wie realistisch diese Prognose war, und wie sehr der christliche Weg von seinen Ursprüngen her die Opferbereitschaft bis zum Martyrium voraussetzt. Diese Dimension des Textes verdient, gerade weil sie unter reichs-, staats- oder volkskirchlichen Rahmenbedingungen Jahrhunderte lang begreiflicherweise unterbelichtet und verzerrt wahrgenommen worden ist, m.E. besondere Beachtung in unserer Zeit, in der die Frage nach der Kirche als „Kontrastgesellschaft“ aus vielerlei Gründen neue Dringlichkeit bekommt (vgl. Lohfink; Améry).

Homiletische Entscheidungen

Auf der Schwelle zur Passionszeit bereitet das Evangelium am Sonntag Estomihi auf die Zumutungen vor, die der Weg Jesu für diejenigen, die ihn als Messias bekennen und ihm nachfolgen wollen, birgt. Bei aller Härte dieser Zumutungen ist entscheidend, dass auch sie wirklich zum Evangelium gehören: Sie wären also im Ansatz falsch verstanden, wenn sie in der Predigt nicht transparent würden für den verheißungsvollen, leuchtenden Hintergrund des nahegekommenen Gottesreiches, für das Jesus auch und gerade mit seinem Weg ans Kreuz ja einsteht, und für das er auch die ihm Nachfolgenden in Anspruch nimmt. Die Aufforderung zur Kreuzesnachfolge ist also wohl „Gesetz“, aber nicht abstrakt und isoliert, sondern Gesetz als notwendige Form des Evangeliums, dessen Inhalt die Gnade ist (vgl. Barth, KD IV/2, 292f.). Die jüdische Rede vom „Joch des Himmelreichs“ entspricht dem hiermit Gemeinten genau und verdichtet es zugleich in einem einprägsamen Bild, das in der Predigt durchaus eingeführt und – gleichsam als innerjüdischer Kommentar zum Evangelium – meditiert werden kann. 

Wenn in V 35 das Verlieren des Lebens um Jesu und des Evangeliums willen als reale Perspektive erscheint, so ist hier eine Grenzsituation im Blick, die sich gegenwärtig fundamental von der Lage christlicher Gemeinden im deutschsprachigen Europa unterscheidet. Soll das hier Gesagte in seiner Härte nicht durch ‚übertragene’ Deutungen auf kleinere Widrigkeiten im christlichen Leben verharmlost werden, bleibt wohl nur, die Extremforderung Jesu als äußersten Punkt eines Spannungsfeldes zur Geltung zu bringen, innerhalb dessen es vielerlei ‚Kreuzwegstationen en miniature’ gibt, in denen Nachfolge Jesu zu erlernen und das Evangelium alltäglich zu bezeugen ist. – Den gemeinsamen Nenner dieser großen und kleinen Kreuzwegstationen bietet der Text in dem Stichwort „sich selbst verleugnen“ an. Gemeint ist nicht ein anti-emanzipatorischer, selbstquälerischer, prinzipieller Verzicht auf Lebensfreude, gar noch als Mittel, sich den Himmel zu verdienen, sondern die praktizierte Freiheit der Kinder Gottes, die mit verwandelten Prioritäten leben und elementare menschliche Bedürfnisse, Interessen und Ziele zurückstellen, evtl. auch ganz aufgeben können, weil ihnen der Himmel schon aufgegangen ist und einen Sinn, eine Erfüllung, eine Freude an Gott aufleuchten lässt, die über den Horizont der menschlichen Selbstbehauptungsinstinkte weit hinausführt.

Zur exemplarischen Konkretion dessen, was „Selbstverleugnung“ im heutigen Kontext zu bedeuten hat, möchte ich in der Predigt v.a. auf die Erhaltung und Gestaltung des Sonntags eingehen;  es ist absehbar, dass er – als gesetzlich geschützter „Tag der Arbeitsruhe und seelischen Erhebung“ – im Zeichen zunehmender Ökonomisierung aller Lebensbereiche immer stärker gefährdet werden wird. Auf dem Spiel steht damit eine, vielleicht die letzte abendländische Institution, die milieuübergreifend eine Alternative zu dem Leistungs- und Zweckdenken des Marktes sichtbar macht und damit den „Göttern“ der modernen Welt ähnlich Paroli bietet wie es die jüdische und christliche Verweigerung des Kaiseropfers in der Antike tat. Den Sonntag zu heiligen, ihm eine besondere Gestalt zu erhalten, bedeutet auch Verzicht: Verzicht der KonsumentInnen auf frische Brötchen zum Sonntagsfrühstück, Verzicht auf vermeidbare (private oder geschäftliche) Alltagsarbeiten am Sonntag, Verzicht auf Öffnung eines eigenen Ladens selbst dann, wenn der zunehmend ausgehöhlte Sonntagsschutz diese rechtlich zulässt (vgl. das Ladenschild der EKD-Kampagne: „Gott sei Dank, es ist Sonntag!“). So einschneidend dergleichen Verzichtleistungen sein mögen, vom Evangelium aus haben Sie ihren wesentlichen Grund und Sinn darin, dass sie „Vorspiel endgültiger Freiheit“ (H.-W. Wolff) sind, Hinweis auf das Daseindürfen vor aller eigenen Leistung, Vorgeschmack der Lebensordnung im Reich Gottes; eben dies gibt ihnen zugleich ihre Verbindlichkeit für die, die vom Evangelium her leben wollen.

In die Predigt einsteigen würde ich mit dem Verweis auf einen Dokumentarfilm über Mutter Theresa von Kalkutta: „Die Freiheit, arm zu sein“. Schon der Titel präludiert Jesu Wort von denen, die ihr Leben gewinnen, obwohl sie es um des Evangeliums willen verlieren, und der Film selbst erschließt den Erfahrungsgehalt dieses paradoxen Wortes, indem er anschaulich macht, wie Menschen, die um Christi willen auf alles verzichtet haben, was das Leben nach westlichen Maßstäben lebenswert macht, schon hier und jetzt in einer tief beindruckenden Freude und Erfüllung leben. Gegen Ende der Predigt könnte – um die im Evangelium anvisierte Grenzsituation nicht ganz zu übergehen – etwa der Augenzeugenbericht vom Märtyrertod Dietrich Bonhoeffers stehen, in dem die Ruhe und Zuversicht seiner real vollzogene Hingabe des Lebens wie ein authentischer Kommentar zum Evangelium von Estomihi klingt: „Dies ist das Ende – für mich der Beginn des Lebens“ (Bethge, S. 1037).

Liturgievorschläge

 
Psalm: 31 (Wochenpsalm; i.A.); Schriftlesung: 1.Kor 13 (Epistel; i.A.)
Eingangslied: „In dir ist Freude in allem Leide...“ (EG 398)
Lied vor der Predigt: „Wir gehen hinauf nach Jerusalem...“ (EG 545, EKKW)
Lied nach der Predigt: „Gott liebt diese Welt“ (EG 409)
 

Literatur

 
Améry, Carl, Global Exit. Die Kirchen und der totale Markt, btb 2004.
Barth, Karl, Kirchliche Dogmatik IV/2, Zürich 1955, S. 609–614.
Bethge, Eberhard, Dietrich Bonhoeffer. Eine Biographie, München 1967.
Gnilka, Joachim, Das Evangelium nach Markus, 2. Teilband, Neukirchen-Vluyn 21999.
Lenhardt, Pierre / von der Osten-Sacken, Peter, Rabbi Akiva. Texte und Interpretationen zum rabbinischen Judentum und Neuen Testament, ANTZ 1, Berlin 1987.
Lohfink, Norbert, Das Jüdische am Christentum. Die verlorene Dimension, Freiburg-Basel-Wien 1987.
Voigt, Gottfried, Der schmale Weg. Homiletische Auslegung der Predigttexte (Neue Folge: Reihe I), Göttingen 1978, S. 149–156.
 
Die Meditation von Dr. Manuel Goldmann ist mit freudlicher Genehmigung des Autors entnommen aus: Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext, hrsg. von Studium in Israel e.V., 2008 

Pfr. Dr. Manuel Goldmann, Kirchhain
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