Calvin und der Geist des Kapitalismus

von Matthias Freudenberg

Impulsreferat im Reformierten Zentrum beim 32. Deutschen Evangelischen Kirchentag am 23. Mai 2009

Matthias Freudenberg: Calvin und der Geist des Kapitalismus (2009).pdf

Johannes Calvin hat der Reformation entscheidende Impulse verliehen, die bis heute weiterwirken. Das gilt zunächst für die Stadt Genf, in der Calvin einen Großteil seines nur 54 Jahre dauernden Lebens als Pfarrer und theologischer Lehrer gelebt hat. In Genf entwickelte Calvin ein Konzept von der christlichen Gemeinde, in der die Einheit, der Zusammenhalt und die gegenseitige Hilfe im Mittelpunkt standen. Der Mensch ist nach Calvin dazu geschaffen, mit seinen ihm anvertrauten Gaben und übrigens auch mit seinen Gütern und seinem Vermögen dem Schöpfer und Bewahrer seines Lebens zu antworten, sich vor ihm zu verantworten und sich ihm dankbar zu zeigen. Die Felder, auf denen die Menschen die ihnen von Gott geschenkte Freiheit zu bewähren hatten, sind die großen Felder der Wissenschaft und Wirtschaft, der Politik und des Rechts. Calvin nimmt die moderne Welt und den modernen Menschen in den Blick und zeigt Felder zur entschlossenen Lebensgestaltung auf.

Gelegentlich wird der Eindruck erweckt, dass Calvin im Rahmen dieser entschlossenen Gestaltung des Lebens auch den Kapitalismus erfunden habe. In einem Beitrag unter dem Titel „Johannes Calvin Superstar“ einer überregionalen Sonntagszeitung liest sich das so: „Egal, nach welchen Indikatoren man greift: Pro-Kopf-Einkommen, Alphabetisierung, Demokratisierung, Korruption – in den meisten Punkten liegen Länder vorn, in denen der Protestantismus Volksreligion ist. Dort ist nicht nur die Arbeitsethik, auch die politischen Freiheiten sind am weitesten entwickelt.“[1] Die Argumentation mündet in die vulgärsoziologische Konstruktion, dass am Beginn des Kapitalismus der Calvinismus stehe, für den wiederum kein Geringerer als Calvin selbst die Verantwortung trage. Die These vom Zusammenhang von Calvinismus und Kapitalismus hat vor gut 100 Jahren der Soziologe Max Weber in die Welt gesetzt. Seitdem werden seine Überlegungen, dass die calvinistische Ethik das Gewinnstreben und die Suche nach wirtschaftlichem Erfolg befördert haben, vielfach wiederholt.[2] Webers These knüpft an die Beobachtung an, dass der moderne Kapitalismus weder in katholischen noch in lutherisch geprägten Ländern, sondern in der Schweiz, den Niederlanden, England und den USA seinen Anfang genommen hat. Laut Weber seien die Reformierten im Vergleich mit anderen Konfessionen für die Entwicklung des Kapitalismus förderlicher gewesen. Weber zufolge hat schon Calvin selbst den Gedanken der Bewährung des Glaubens im weltlichen Berufsleben vertreten. Das habe im Calvinismus dazu geführt, dass der göttliche Segen und damit die eigene Erwählung am wirtschaftlichen Erfolg abgelesen werden könnte.[3] Die Folge sei gewesen, dass die Menschen ihre ökonomische Basis gestärkt hätten, um ihrer Erwählung gewiss zu werden.[4] Die sog. innerweltliche Askese der Calvinisten, Geld und Eigentum anzusammeln, trage zum wirtschaftlichen Erfolg bei. Ernst Troeltsch ist Weber darin zur Seite gesprungen, dass er Calvin als Typus beschreibt, der mit seinem Denken die wirtschaftliche Entwicklung befördert hätte.[5]

Doch was geschieht in Webers Argumentation? Webers Belege für seine These stammen aus dem englisch-amerikanischen Calvinismus des 17. und 18. Jahrhunderts. Zu dieser Zeit hatte sich der Calvinismus bereits mit anderen Geistesströmungen und Frömmigkeitsprofilen verbunden. Eine große Rolle spielt in Webers These die Erwählungslehre. Dieses sog. reformierte Zentraldogma habe im 16. und 17. Jahrhundert religiöse Angsteffekte erzeugt, welche die Menschen nur durch rastlose Berufsarbeit abreagieren konnten. Dabei wurde beruflicher Erfolg als Ausweis des Erwähltseins gedeutet.[6] Untersuchungen haben aber gezeigt, dass die Gemeinden und die meisten Pfarrer von der Erwählungslehre recht wenig berührt waren. Eine Durchsicht von 100 Autobiographien und 300 Tagebüchern, zumeist aus der Feder von Puritanern des 17. Jahrhunderts, ergab, dass jedenfalls von Angst keine Rede sein kann. Was die Frömmigkeit prägte, war der Glaube an die Vorsehung und die Gegenwart eines gütigen Gottes in der Welt des Alltags. Die Belege, die Weber anführt, haben mit Calvin nichts zu tun. Und so kann man den von Weber analysierten Calvinismus der Puritaner keineswegs mit den Absichten Calvins in eins setzen. Im Übrigen hat Calvin die Erwählungslehre nicht in die Richtung interpretiert, sich an seinen Werken und an seinem wirtschaftlichen Erfolg Gewissheit über die eigene Erwählung zu verschaffen. Im Gegenteil: Calvin wollte durch die Erwählungslehre solchen Überlegungen entgegenwirken, welche die göttliche Gnade von der menschlichen Leistungsfähigkeit abhängig sehen. Menschen sollten gerade in ihrer Glaubens- und Lebensnot erfahren: Ihr seid von Gott erwählt, und dies nicht aufgrund eurer Glaubensstärke und auch nicht aufgrund eures Lebenswandels und auch nicht aufgrund eures wirtschaftlichen Erfolges, sondern aufgrund von Gottes Güte.

Weber greift in seiner Darstellung faktisch auf Erbauungsliteratur aus dem Puritanismus zurück, so u.a. auf Richard Baxter sowie auf verzerrende Darstellungen aus dem 19. Jahrhundert, die solche Verbindungen zwischen Calvinismus und Kapitalismus behaupten.[7] Überhaupt mutet die Rede vom „Geist“ des Kapitalismus eigenartig an: Wer vom „Geist“ des Kapitalismus spricht, erhebt den Kapitalismus zu einer mystischen religiösen, jedenfalls von irgendeinem Geist beseelten, Größe – lädt ihn also ideologisch auf. Mit dem Ergebnis, dass sich die Ursache der religiös-kulturellen Bewegung des Calvinismus für den Kapitalismus umso leichter behaupten lässt. Doch nicht erst heute – unter dem Eindruck der Finanz- und Wirtschaftskrise – muss man die Frage aufwerfen, von welchem Geist der Kapitalismus eigentlich beseelt ist. Im Ergebnis hält Webers Rückschluss vom Geist des Kapitalismus auf die sogenannte calvinistische innerweltliche Askese und ihr Streben nach wirtschaftlichem Erfolg als Erwählungsgewissheit einer kritischen Prüfung nicht stand. Vielmehr gilt das Gegenteil: Die Überlegungen, die Calvin zur Frage der wirtschaftlichen Verantwortung und zur Solidarität der Reichen mit den Armen beigesteuert hat, sind keineswegs auf einen gleichsam entfesselten individualistischen Kapitalismus, sondern auf eine allseits lebensdienliche Ökonomie ausgerichtet.

Eins aber ist auch wahr: Es gibt im Calvinismus durchaus Lebenshaltungen, die auf Schlichtheit und Bescheidenheit abzielen und ein solides Wirtschaften und Investieren eher möglich machen, als es ein exzessiver Lebensstil vermag. Und der Calvinismus entfaltete im Puritanismus eine Disziplinierung aller Lebensbereiche, die das kapitalistische Erwerbsstreben ebenso begünstigte wie die Eigeninitiative und Selbstverantwortung des Einzelnen. An die Stelle der Zweistufenethik von Mönchtum und Weltchristentum trat der Dienst durch Arbeit im Beruf, um Gott die Ehre zu geben. Und mentalitätsgeschichtlich wirkt die Disziplinierung der Lebensführung mit den Idealen von Fleiß, Gewissenhaftigkeit und Nützlichkeit bis heute nach.

Doch ist damit, dass ich die sogenannte Max-Weber-These in ihrer Plausibilität in Frage gestellt habe, schon alles über Calvin gesagt? Mir kommt es nun in einem zweiten Schritt darauf an zu zeigen, dass Calvin sich mit wirtschaftlichen und sozialen Fragen aus naheliegenden Gründen intensiv beschäftigt und auch noch für heute wegweisende Antworten entwickelt hat. Als Ahnvater eines entfesselten Kapitalismus lässt Calvin sich keineswegs beschreiben. Sein Interesse liegt in der „humanité“, in der Menschlichkeit. „Wir sollen menschlich sein!“[8], war seine Antwort auf die Frage, wie wir in sozialer und ökonomischer Hinsicht miteinander umgehen sollen.

Besonders in seinen Predigten hat sich Calvin über die Kluft von Arm und Reich geäußert. Und erinnerte an die Humanität angesichts des Flüchtlingselends, von dem gemeinsam mit anderen Städten Genf in den Jahren Calvins geprägt war. Genf war eine Stadt im Umbruch mit einer schwierigen sozialen Struktur, die das Faktum der Armut weiter Bevölkerungsteile in sich schloss. Aufmerksam nahm Calvin die sozialen Wirkungen der Geldwirtschaft wahr, welche die mittelalterliche Tauschwirtschaft ablöste. Dabei fehlten auch die kritischen Töne nicht, wenn er den kostspieligen Lebenswandel der Reichen beklagte und ihnen vorwarf, die christliche Freiheit durch Gier in ihr Gegenteil zu verkehren: „Fast alle, denen ihr Vermögen größere Ausgaben gestattet, haben an üppigem Glanz ihr Vergnügen.“[9] Die Predigt wurde zum Instrument, um deutlich zu machen, wie Calvin sich einen verantwortlichen Umgang mit Vermögen, Gütern und Geld vorstellte. Ins Zentrum rückt dabei der Gedanke, dass die Lebenswelten von Arm und Reich sich nicht derart entkoppeln dürfen, das kein Zusammenhang und Zusammenhalt mehr möglich ist. Calvin liegt an der gegenseitigen Solidarität von Arm und Reich. Dass Eigentum verpflichtet und dass Gott nicht willkürlich Güter in die Hand der Reichen legt, sondern um sie zur Unterstützung ihrer bedürftigen Nächsten zu bewegen, ist zunächst eine Frage der Barmherzigkeit und Menschlichkeit. Aber es geht noch um mehr: Calvin, der gelernte Jurist, wollte die gegenseitige Unterstützung auch zu einer Angelegenheit machen, die rechtlich geregelt und einklagbar war. Humanität sollte nicht nur Herzenssache sein, sondern auch verbindlich gemacht werden. Calvin wendet sich aber auch dagegen, die Armut romantisierend zu überhöhen; vielmehr ruft er zu ihrer Überwindung auf. Und erst recht soll sich der Reiche davor hüten, seinen Reichtum als Machtinstrument gegen seinen Nächsten einzusetzen. Die von Calvin eingeforderte Humanität lebt aus der Fähigkeit, sich des Bedürftigen zu erbarmen und sich in seine materielle Not hineinzuversetzen. Und Calvin spitzt weiter zu: Wer über die Not des Armen hinwegsieht und ihm in Handel und Gewerbe das Recht verweigert, der führt faktisch „Krieg gegen Gott“.[10] Enger kann man den Zusammenhang von Glauben und Leben wohl kaum beschreiben.

Von beklemmender Aktualität ist eine andere Predigt, in der sich Calvin entschieden gegen die Vernichtung von Nahrungsmitteln und Marktspekulationen mit ihnen ausspricht. Calvin wörtlich: „Da sind Leute, die ihr Getreide lieber in der Scheune verrotten lassen oder es dem Ungeziefer zum Fraß überlassen, statt es denen zum Kauf anzubieten, die es dringend benötigen; denn jene ziehen es vor, die Armen hungern zu lassen. (...) Da ist Getreide, das durch die Ernte eingebracht wurde. Siehe, der Herr hat seine Güte und seinen Segen über die Armen ausgeschüttet, damit sie ihren Hunger stillen können. Doch dieses Getreide wird in Scheunen gespeichert und dort verschlossen aufbewahrt, bis die Preise steigen und der Hunger die Menschen in die äußerste Not treibt, wo sie sich nicht mehr zu helfen wissen.“[11] Was für ein Gespür für die Not von Menschen und welche Einsicht in ein verwerfliches ökonomisches Gebaren! Calvin – der Vater des Kapitalismus? Wohl kaum!

In seiner praktischen Arbeit setzte Calvin durch, dass in Genf Spitäler, Waisenhäuser mit Kinderunterricht und Armenhäuser errichtet werden, um Not zu lindern. Das in der Genfer Kirchenordnung beschriebene geistlich gestaltete Diakonat, verstanden als Verwaltung von Spenden und als direkte Hilfe, unterstreicht Calvins Impulse zur Bekämpfung und Überwindung der Armut.[12] Ohne Diakonie gibt es keine Kirche – diese Überzeugung Calvins ist in die reformierte Anschauung von der Kirche eingeflossen. Das gilt auch für die gemeindediakonische Mahnung Calvins, dass die Gemeinde den Armen nicht als Armen an sich, sondern als ihren Armen erkennen soll. Calvin wörtlich: „Es ist wirklich nicht ohne Grund, dass unser Herr sagt: ‚Dein Armer, dein Bedürftiger, der im Lande weilt.’ (...) Es sind unsere Armen. (...) Unser Herr ist’s, der sie uns darbietet.“[13] Dies bleibt ein Stachel im Fleisch der christlichen Gemeinde: Der Arme und der Reiche sollen einander begegnen. Sie sollen als von Gott Verbundene und aneinander Gebundene Gemeinschaft haben und durch ihr Leben Gott ehren. Es muss verhindert werden, die Person des Armen zu verschweigen, an den Rand zu drängen und dem Reichen gleichsam zu entziehen. Begegnung, Empfangen und Geben, Teilgeben und Teilhaben: Das sind die Dimensionen, in denen sich das Leben des Armen und des Reichen vor Gott vollziehen soll. Im Hintergrund steht die biblische Erkenntnis: Alle Güter sind als Gottes Gaben nicht der freien Verfügung anheimgestellt, sondern anvertrautes Eigentum, um dem Nächsten daran zum gemeinsamen Nutzen Teil zu geben.[14] Gemeinschaft und Menschlichkeit bezeichnen folglich neben der Ehre Gottes den zweiten Brennpunkt von Calvins Predigten. Der letzte Grund für die Humanität liegt in der gemeinsamen menschlichen Grundsituation der elementaren Bedürftigkeit. Gemeinsam stehen wir alle vor Gott da als Bedürftige.

Calvin hat sich neben den sozialen und diakonischen Erinnerungen an die Humanität auch wirtschaftlichen Einzelfragen zugewandt. Seine entscheidende Voraussetzung lautet: Eigentum heißt, dass etwas Gott gehört.[15] So verhält es sich schon mit den Menschen selber. Sie gehören Gott und sind mitsamt ihren je persönlichen Gaben und ihrem Besitz Gottes Eigentum. Von hier aus bezieht Calvin Stellung zum materiellen Eigentum. Geld und Eigentum stehen bei ihm nicht unter negativem Vorzeichen. Vielmehr zeichnet sich seine Haltung durch eine Nüchternheit aus, in der Geld und Eigentum weder verklärt noch verdammt werden. Gott habe uns zu Ökonomen, also zu Haushaltern, eingesetzt.[16] Unter den Ökonomen schätzt Calvin besonders die Kaufleute und ihren unternehmerischen Fleiß; wenn diese aber andere betrügen, wäre das ein Verstoß gegen jede Ordnung.[17] Dabei behält er beides im Blick: die oftmals verzweifelte Situation des Armen und die Logik des Marktes, zu der auch eine maßvolle Zinswirtschaft gehört. Calvin betont etwa, dass Christus keineswegs prinzipiell zum Verkauf aller Güter auffordert, sondern bewahrt wissen will, was Gott den Menschen in die Hand gegeben hat.[18] Darum ruft Calvin den Menschen dazu auf, „Gottes Gaben ohne Gewissensbedenken … zu gebrauchen”.[19] Er erklärt sogar, dass Güter und Reichtümer dem Gebrauch der Menschen überlassen sind und es nirgends untersagt ist, neuen Besitz zu erwerben.[20] Allerdings stellt er auch Regeln für den Gebrauch der Güter auf, indem er davor warnt, die christliche Freiheit durch frivolen Luxus, Verschwendung der anvertrauten Güter oder Gier zu verderben.[21] Weder hemmungsloser Gebrauch der Freiheit noch der Verzicht auf sie vertragen sich mit ihrem christlichen Verständnis. Freiheit ist nach Calvin gebundene Freiheit – gebunden durch den Willen des Befreiers und darum auch gebunden an ihn und seinen Mitmenschen. Freiheit darf nach Calvin nie gegen andere Menschen, sondern soll nach dem Maßstab der Liebe zu ihren Gunsten gebraucht werden – so spricht er vom „Maßhalten in der Freiheit“.[22]

Calvin kann auch die Vorzüge des Besitzes loben und etwa die Schönheit von Kleidung oder die Wirkung von Kosmetika hervorheben.[23] Freude an diesen Gaben Gottes, nicht aber Argwohn bestimmt seine Ansicht. Reichtum einfach wegzuwerfen, wäre keine besondere Leistung. Die Liebe ist der Maßstab für den klugen Umgang mit Geld und Eigentum. Und zu dieser Liebe gehört die Dankbarkeit: Die Gaben sollen mit Dank empfangen und großzügig auch für andere eingesetzt werden. An anderer Stelle zieht er etwas der Erbschaftssteuer Vergleichbares in Betracht.[24] Ferner wäre es falsch, sich aufgrund des Reichtums für glücklich zu halten. Zum Leben bedarf es noch anderer Güter als das wirtschaftliche Wohlergehen. Damit warnt Calvin davor, sein Vertrauen auf irdische Dinge zu setzen und den Geber der Gaben zu übersehen.

Schließlich erklärt Calvin auch, dass Geld – ebenso wie Häuser und Waren – Gewinn bringen darf.[25] Er hält es für sinnvoll, Geld als Startkapital für Kleinunternehmer zur Verfügung zu stellen und eine Wirtschaftsförderung durch Kredite zu ermöglichen. Auf diese Weise förderte er die Integration qualifizierter Kleinunternehmer und Kaufleute, die als mittellose Flüchtlinge nach Genf gekommen waren. Diese Maßnahmen berühren sich mit der Frage des Zinsnehmens. Der von Calvin ausgehende Weg in der Zinsfrage zielt auf eine Regelung gegen ungerechte Wucherzinsen. Er bestreitet, dass die Bibel ein totales Zinsverbot fordert, und tritt dafür ein, dass Geld und Besitz Gewinn bringen dürfen. Zinsen können sogar ein ökonomischer Anreiz sein, Geld produktiv anzulegen. Dabei unterschied Calvin zwischen einem zinslosen Konsumdarlehen und einem zinspflichtigen Produktionsdarlehen. Vor allem aber fordert Calvin den gerechten Umgang mit dem Zinsnehmen: Nur wer wirtschaftlich dazu imstande ist, muss Zinsen zahlen; von Armen soll kein Zins genommen werden. Es ist Aufgabe des Staates, die Zinshöhe festzulegen (in Genf begrenzt auf 5–6,6 %).[26] Schließlich empfiehlt Calvin Kontrollmechanismen, welche die Wirkung des Zinswesens auf das allgemeine Wirtschaftsleben steuern.

Eigentum als gute Gabe Gottes verdankt sich seinem Segen und darf in Verantwortung genossen und eingesetzt werden. Dies soll nach dem Maßstab der Liebe und in der Haltung der Dankbarkeit für das anvertraute Eigentum geschehen. Die gegenseitige Mitteilung der Gaben beruht auf dem Prinzip der Freiwilligkeit. Eine Enteignung würde diesem Denken, welches das Eigentumsrecht vertritt, widersprechen. Calvin liegt am Gleichgewicht zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und sozialer Gerechtigkeit. Insofern kann man sagen, dass Calvin allenfalls als ein Ahnherr der sozialen Marktwirtschaft, nicht aber des Kapitalismus gelten kann. In den Spuren Calvins kommt es nicht nur darauf an, ein kritisches Bewusstsein für die Gefahren des Wirtschaftens, die uns gegenwärtig deutlich vor Augen treten, zu gewinnen. Es gilt vielmehr auch, vom christlichen Glauben und der ihm eingepflanzten Freiheit aus, das Wirtschaftsleben mitzugestalten und dabei das Menschengerechte und die Lebensdienlichkeit mit Nachdruck zu betonen. So können sich Ökonomie und Humanität zu einer „Ökonomie für den Menschen“ verbinden.[27] Wo das gelingt, werden nicht nur Kapitalströme fließen, sondern sich auch Inseln des Erbarmens auftun, wo wir einander als freie Menschen begegnen – frei von der verkrampften Gier und Sorge um uns selbst und frei für die Gemeinschaft mit dem anderen.


[1] Mariam Lau, in: Welt am Sonntag (17.12.2006), 71.

[2] Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904/1906), in: Die protestantische Ethik Bd. 1, hg. v. Johannes Winckelmann, Hamburg 1973 (neu hg. 1920 in Bd. 1 seiner Ges. Aufsätze zur Religionssoziologie). Zur Kritik an Webers These vgl. D. Schellong, Calvinismus und Kapitalismus. Anmerkungen zur Prädestinationslehre Calvins, in: Karl Barth und Johannes Calvin. Karl Barths Göttinger Calvin-Vorlesung von 1922, hg. v. H. Scholl, Neukirchen-Vluyn 1995, 74–101.

[3] Vgl. Schellong, Calvinismus und Kapitalismus, 78f.

[4] Es handelt sich dabei um die Vorstellung vom Syllogismus practicus, nach dem in einem Rückschlussverfahren das Erwähltsein an den eigenen Leistungen und dem wirtschaftlichen Erfolg ablesbar ist.

[5] E. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen. Ges. Schriften, Bd. 1, Tübingen 1912, 706.709.

[6] Vgl. Schellong, Calvinismus und Kapitalismus, 80.

[7] Schellong, Calvinismus und Kapitalismus, 88–97, nennt u.a. M. Schneckenburger, Vergleichende Darstellung des lutherischen und reformierten Lehrbegriffs, aus dem Nachlaß hg. v. E. Güder, Stuttgart 1855.

[8] Predigt über 5. Mose 15,11–15, in: Calvin-Studienausgabe, Bd. 7: Predigten. Eine Auswahl, hg. v. E. Busch/M. Freudenberg u.a., Neukirchen-Vluyn 2009, 77.

[9] Inst. III,19,9.

[10] Predigt über 5. Mose 20,16–20, in: Calvin-Studienausgabe, Bd. 7, 119.

[11] Ebd., 127f.

[12] Vgl. Genfer Kirchenordnung von 1561, in: Calvin-Studienausgabe, Bd. 2: Gestalt und Ordnung der Kirche, Neukirchen-Vluyn 1997, 256–259 (= CStA 2); vgl. W. Bernoulli, Das Diakonenamt bei Calvin, Greifensee 1949.

[13] Predigt über 5. Mose 15,11–15, in: Calvin-Studienausgabe, Bd. 7, 72f.

[14] Inst. IV,1,3, wo Calvin erklärt: Wenn der Glaube lebendig ist, dass Gott der gemeinsame Vater und Christus das gemeinsame Haupt ist, sei es eine Selbstverständlichkeit, dass sie gegenseitig den Besitz mitteilen; vgl. auch Inst. III,7,5.

[15] Vgl. zum Folgenden Eßer, Eigentumsbegriff, 139–161.

[16] In Inst. III,7,5 mahnt Calvin zur gegenseitigen Hilfe in der Gemeinde und erklärt: „nos esse oeconomos“.

[17] Vgl. Eßer, Eigentumsbegriff, 153f. unter Bezug auf Locher, Eigentumsbegriff, 38f. und CO 37,167 sowie CO 36,394 (Jesajakommentar).

[18] CO 45,539f.

[19] Inst. III,19,8.

[20] Ebd.

[21] Inst. III,19,9.

[22] Inst. III,19,10–14, hier bes. Inst. III,19,12.

[23] Auslegung zu Ps 104,15, in: Calvin-Studienausgabe, Bd. 6: Der Psalmenkommentar. Eine Auswahl, Neukirchen-Vluyn 2008, 297.

[24] Zu Lk 12,33 schreibt Calvin: „Als ob [Jesus] gesagt hätte: Eure Freigebigkeit soll sich auch bis zur Antastung des ererbten Gutes, bis zum Verkauf des Grundbesitzes erstrecken.“ (CO 45,205).

[25] Vgl. M. Geiger, Calvin, Calvinismus, Kapitalismus, in: Ders. (Hg.), Gottesreich und Menschenreich, FS E. Staehelin, Basel/Stuttgart 1969, 230–286, hier 247.

[26] Vgl. Eßer, Eigentumsbegriff, 160 unter Bezug auf den „Brief an einen Freund“ (Claude de Sachin, 1545), Opera selecta 2,395f. und die Ordonnances sur la police des églises de la campagne (1547), in: CO 20/1,56f.

[27] Vgl. A. Sen, Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, München 1999.

 


©Prof. Dr. Matthias Freudenberg (Kirchliche Hochschule Wuppertal/Bethel)

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