Der Charme der gerechten Gabe

Motive einer Theologie und Ethik der Gabe am Beispiel der paulinischen Kollekte für Jerusalem

Ist das wirklich Gerechtigkeit, wenn Reiche Armen etwas abgeben? Magdalene L. Frettlöh problematisiert die größer werdende Kluft zwischen Armen und Reichen und den Versuch, diese durch 'Wohltätigkeit' zu überbrücken.

I. Angabe: Die Rückkehr der milden Gabe
II. Eingabe: Eine kleine Phänomenologie der Gabe
1. Der Geist (in) der Gabe und die freiwillige Verpflichtung zum Geben, Nehmen und Erwidern – Marcel Mauss' Lösung des Rätsels der Gabe 
2. Die Ambivalenz der (milden) Gabe. Zur gegenwärtigen Spendenpraxis
3. Die Gabe, die keine ist – J. Derridas Dekonstruktion der (getauschten) Gabe
4. Vom Geben, das in der Gabe nicht aufgeht - B. Waldenfels' Phänomenologie von Geben und Nehmen
III. Vorgabe, Weitergabe und Rückgabe: Das paulinische Kollektenprojekt
1. "Wir teilen euch die charis Gottes mit ..." - oder: Grazie, der Inbegriff göttlichen und menschlichen Gebens
2. "... auf dass Gleichheit entstehe!" - oder: die Kollekte als diakonia
3. "... und sie sehnen sich nach euch!" - oder: die Kollekte als koinonia
4. "... auch Überfluß für Gott!" - oder: die Kollekte als leitourgia
IV. Zugabe: Geben, was man nicht hat

Magdalene L. Frettlöh, Der Charme der gerechten Gabe.
Motive einer Theologie und Ethik der Gabe am Beispiel der paulinischen Kollekte für Jerusalem. PDF.

I. Angabe: Die Rückkehr der milden Gabe

"Die milde Gabe ist wieder da", konstatiert der französische Kulturanthropologe und Ethnologe Maurice Godelier.[1] Sie ist zurückgekehrt, weil der Staat immer weniger in der Lage (oder willig) ist, für soziale Gerechtigkeit zu sorgen, weil es ihm nicht gelingen will, die wachsende Zahl derer, die das kapitalistische System der "freien" Marktwirtschaft ausgeschlossen (euphemistisch: "freigesetzt") hat, in den Arbeitsmarkt oder auch nur in das Sozialgefüge der Gesellschaft zu reintegrieren (wer den Arbeitsplatz verliert, verliert immer mehr als diesen). Der Rückzug des Staates nicht nur aus der Wirtschaft, sondern zunehmend auch aus Bereichen des sozialen und öffentlichen Lebens, führt dazu, dass die Gesellschaft übernehmen muss, wofür der Staat seine Zuständigkeit aufkündigt: den Opfern dieses Wirtschaftssystems, die auch durch das immer grobmaschigere Netz des Sozialstaates fallen, das Lebensnotwendige zukommen zu lassen. Je sichtbarer die Armut in der Öffentlichkeit wird, desto mehr steigt der Druck zur karitativen Gabe – freilich nicht (mehr) als individuelle Geste der christlichen Kardinaltugend der Mildtätigkeit, sondern in ihrer säkularisierten Gestalt einer humanitären Solidarität, also einer in Spenden- und Hilfsorganisationen institutionalisierten und in den Medien propagierten Wohltätigkeit, die nicht nur auf die Spendenbereitschaft breiter Gesellschaftsschichten, sondern auch auf die Großzügigkeit und Freigebigkeit der Vermögenden setzt.

Das Geben von Gaben, das Schenken überschreitet also den privaten und persönlichen Bereich verwandtschaftlicher und freundschaftlicher Beziehungen, in dem es vor allem zu Hause ist. Im Medium der karitativen Gabe ist es nicht nur gesellschaftsfähig geworden, sondern soll zur Lösung der gesellschaftlichen Probleme wesentlich beitragen. Jenseits der berechnenden, profitorientierten Logik des Marktes und der Orientierung des Staates an Leistung und Gegenleistung angesiedelt, soll die milde Gabe der Entsolidarisierung entgegenwirken und die zerrissene Gesellschaft einen, soll die Schere zwischen Armen und Reichen, Erwerbstätigen und Erwerbslosen, Marginalisierten und öffentlichen Personen schließen helfen.

"Die Gabe bringt nicht", so muß auch M. Godelier am Ende seiner Untersuchung in einem gewissen ironisch-melancholischen Unterton zugeben, "das gelobte Land. Sie kann beim Warten helfen, aber man kann von ihr nicht alles erwarten, denn allein die Götter geben alles oder haben alles gegeben, dies aber gerade deshalb, weil sie keine Menschen waren" (294). Godelier warnt damit vor einer erneuten Verzauberung der Gabe; er zeigt die Grenzen der Wohltätigkeit auf. Zu dieser Verzauberung gehört für ihn auch, dass die Gabe "zur Trägerin von Utopie" (292) wird: "Indem sich die Gabe 'ohne Berechnung' idealisiert, fungiert sie im Imaginären als letzte Zuflucht einer Solidarität, einer Großzügigkeit beim Teilen, welche andere Epochen der Entwicklung der Menschheit angeblich charakterisiert hat" (ebd.). Eine gesellschaftlich und individuell organisierte Wohltätigkeit darf die Wirtschaft und den Staat nicht aus der Verantwortung für die Folgen ihrer Politik entlassen und von der Verpflichtung zu ökonomischer und sozialer Gerechtigkeit entlasten. Als Kitt, der angesichts der gesellschaftlichen Zerreißproben die Menschen zusammenhält, und als Trostpflaster auf die Wunden, die das "Wund-er" des Wirtschaftsliberalismus geschlagen hat, taugt die milde Gabe auf Dauer nicht. Sie genügt nicht, um das zu richten, was die Wirtschaft angerichtet hat, um die aufzurichten, die zugrunde gerichtet wurden.

Godelier weist die (milde) Gabe in ihre Grenzen. Eigene Feldforschungen bei den Baruya in Neuguinea (156-241) und Studien der Ethnologin Annette Weiner auf den Trobriand-Inseln (51ff.), die dem paradoxen Phänomen nachgehen, dass man Dinge gleichzeitig geben und behalten kann[2], haben sein Interesse auf jene Objekte gelenkt, die unveräußerlich sind, die man nicht verausgaben, weder verkaufen noch tauschen darf, die aber, gerade indem man sie zurückhält und anzureichern sucht, den übrigen Tausch von Gütern, Dienstleistungen etc. allererst ermöglichen: "Es kann keine Gesellschaft geben, es kann keine Identität geben, welche die Zeit überdauert und den Individuen wie den Gruppen, die eine Gesellschaft bilden, als Sockel dient, wenn nicht Fixpunkte existieren, Realien, die dem Gabentausch oder dem Warentausch [...] entzogen sind" (18). Gemeint sind die sacra, die heiligen Dinge: Erzählungen, Mythen, kostbare Gegenstände wie Talismane, Namen, Gesetze und Riten, die eine Gesellschaft an ihren Ursprung zurückbinden, mit dem Grund ihrer Ordnung konfrontieren. Diese Verankerungspunkte werden als Gaben der Götter vorgestellt, die zur Nutzung, nicht zum Besitz an die nächste Generation weitergegeben werden. Sie stiften und bestärken die kollektive und die individuelle Identität, fixieren sie im Wandel der Zeiten und verleihen ihr so Kontinuität. Neben dem Tausch und dem Vertrag stellen sie das zweite Fundament des sozialen Lebens dar.

Die ethnologische Beschäftigung mit den Gründungsmythen der Baruya, das Bemühen, die Herkunft und Funktion ihrer heiligen Dinge zu klären, ist bei Godelier von aktuellen kulturwissenschaftlichen und sozialpolitischen Interessen geleitet: Wo alles veräußerlich und (ver)käuflich zu sein scheint und erbarmungslos in den Sog der Geldzirkulation gezogen wird, läßt das, was dem Austausch entzogen ist, nach dem fragen, "was in einer Marktwirtschaft jenseits des Marktes steht" (288-291), was auch in unseren Gesellschaften unveräußerlich ist und behalten werden muß. Der (religions-)kritischen Funktion der Sozialwissenschaften verpflichtet (279f.), hat Godelier längst die Imagination, bei den "heiligen Dingen" handele es sich um Gaben der Götter, entmythologisiert. Diese entlarvt er als Doppelgänger der Menschen, die selbst am Ursprung der Produktion der unveräußerlichen Gaben stehen. Außerhalb der Sphäre des Warentauschs stehen für Godelier das Individuum als Person, das zwar Teile seiner selbst, seine Arbeitskraft, seine Zeit, seine Kreativität, seinen Körper, sein Blut ..., aber nicht sich selbst verkaufen kann, und die demokratische Verfassung als kollektives, öffentliches, unveräußerliches Eigentum. Beides gilt es zu behalten, damit überhaupt gegeben werden kann.

"Die Gabe wird helfen, aber beim Warten worauf?" (294) – M. Godelier scheint seine LeserInnen am Ende ihrer Lektüre in einer gewissen Ratlosigkeit zurückzulassen. Wie soll man's nun mit der milden Gabe halten?

Bei aller Begeisterung über das glänzende Werk ist auch seinen Rezensentinnen eine gewisse Enttäuschung abzuspüren:

"Den Reichen das Schenken, fast zwingend, zu erleichtern, das wäre schon mal was. Die weniger Reichen daran zu erinnern, dass kostbar ist, was sich dem Markt und den Gesetzen des Tauschwerts entzieht, zum Beispiel die unveräußerlichen Restbestände an Individualität und Gemeinsinn – auch das wäre nicht wenig. Dass nicht nur Gaben von Wert sind, um die keiner gebeten hat, sondern auch solche, die sich der Solidarität wegen von selbst verständen. [...] Godeliers Buch belebt auch die Fantasie für all das, was, jenseits des Käuflichen, ein Geschenk ist" – so sieht Elisabeth von Thadden[3] einige der Konsequenzen, die sich aus Godeliers Studie ergeben. Karin Priester vermutet die Antwort Godeliers in einer "Mischung aus verantwortungsbewusstem Sozialstaat und neuen Formen gesellschaftlicher Solidarität, jenseits einer Praxis bloßer Almosen und Armenfürsorge"[4]. Für Ulrike Brunotte gehört Godeliers "Rätsel der Gabe" in eine Reihe mit den Büchern, die den religiösen Ursprüngen des Kapitalismus auf der Spur sind. Darüber hinaus sieht sie in ihm "ein spannendes und lesenswertes Beispiel" dafür, dass "die vom Gang der Geschichte scheinbar überholten Gegenmodelle [... wie] die 'Ethik der edlen Verschwendung' wieder ins Blickfeld der Kulturwissenschaften"[5] treten.

Wie bescheiden auch die praktischen Konsequenzen aus den großartigen Forschungen von Maurice Godelier ausfallen mögen, mit der milden Gabe deutet sich, so sehr sie selbst von der Waren- und Geldökonomie stigmatisiert ist, dennoch eine Alternative zur "gnadenlosen" kapitalistischen Marktgesellschaft an (immer häufiger ist in der Werbung die Rede von "gnadenlos billigen Preisen", mit denen die Konkurrenz ausgestochen werden soll). Zumindest wird ihr mit der Rückkehr der milden Gabe, mit der Ausweitung der individuellen und persönlichen Praxis des Schenkens ihre Totalität bestritten. M. Godeliers Werk gehört damit zu jenen Anthropologien, Ethiken und Phänomenologien der Gabe, die sich in Würdigung und Kritik, Ergänzung und Fortschreibung mit dem Vermächtnis auseinandersetzen, das Marcel Mauss mit seinem bahnbrechenden Essay "Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften" (1925) hinterlassen hat[6]. Maurice Godeliers "Rätsel der Gabe" nimmt sich geradezu wie eine Gegengabe zu Mauss' epochaler Studie aus.[7] Explizit oder implizit sind alle Mauss-Relektüren vom Interesse an einer gegenwärtigen Gabe- und Geschenkkultur geleitet; sie verknüpfen mit dem Phänomen der Gabe (die Hoffnung auf) Alternativen zu den vorherrschenden Warenbeziehungen in den kapitalistischen Gesellschaften. Es geht in ihnen nicht zuletzt um die öffentliche Moral.

Dieser jeweils aktuelle Bezug der Mauss-Lektüren liegt gleichsam in der Natur der Sache, hat doch Mauss selbst schon aus seiner Entdeckung des Gabentauschs als einer "totalen" sozialen Tatsache der archaischen Gesellschaften soziologische und moralische, sozial- und nationalökonomische Schlußfolgerungen für seine eigene Gegenwart gezogen. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs optiert der Sozialist Mauss zwar für die Marktwirtschaft, fordert aber ebenso entschlossene Kontrollen und beherzte Interventionen des Staates zugunsten einer gerechte(re)n Gesellschaft; gedacht ist dabei vor allem an Gewerkschaften und Genossenschaften, Sozial-, Kranken- und Arbeitslosenversicherungen. Zugleich mahnt er – nicht ohne eine kräftige Prise Sozialromantik – die Reichen dazu, sich die verschwenderische Großzügigkeit der Stammeshäuptlinge archaischer Gesellschaften zum Vorbild zu nehmen, um die Gesellschaft "nicht der kalten Berechnung des Kaufmanns, Bankiers oder Kapitalisten"[8] zu überlassen.

Während M. Mauss' Werk bis heute offenbar nichts von seiner ursprünglichen Faszination[9] eingebüßt hat und weiter nachhaltigen Einfluß auf ethnologische, soziologische, philosophische, anthropologische, kultur-, literatur- und religionswissenschaftliche Studien ausübt, hat die Theologie bisher kaum Notiz von seinem Gabe-Essay genommen.[10] Dies muß um so mehr erstaunen, als die Gabe und das Geben zentrale Theologumena der (jüdischen und) christlichen Tradition darstellen:

Schöpfungstheologisch wird der Unterhalt allen Lebens in der Freigebigkeit Gottes begründet. Vom beschreibenden Lob der Psalmen: "Es warten alle auf dich, dass du ihnen Speise gebest zu rechten Zeit. Wenn du ihnen gibst, so sammeln sie; wenn du deine Hand auftust, so werden sie mit Gutem gesättigt." (Ps 104,27f.) über die Brotbitte des Vaterunsers: "Unser tägliches Brot gib uns heute!" und einschlägige Tischgebete: "Alle guten Gaben, alles, was wir haben, kommt, o Gott, von dir: Dank sei dir dafür." (eg 463) bis in zahlreiche Kirchenlieder hinein: "O Gott, du frommer Gott, du Brunnquell guter Gaben ..." (eg 495) gilt Gott als der Geber "jeder guten und vollkommenen Gabe" (Jak 1,17). Christologisch-soteriologisch wird die Großzügigkeit des Schöpfers in der göttlichen Selbsthingabe an die Welt bedacht: "Er, der doch seinen eigenen Sohn nicht geschont, sondern ihn für uns alle preisgegeben hat, wie sollte er uns zusammen mit ihm nicht alles schenken?" (Röm 8,32). Dass Gott sich in Jesus von Nazareth seiner Schöpfung selbst geschenkt hat, wird zum hinreichenden Grund, alles von ihm zu erwarten. Den Bittenden ist darum verheißen: "Bittet, und es wird euch gegeben!" (Mt 7,7). Die Pneumatologie reflektiert auf den Geist als die Gabe Gottes (Ez 36,26f.; Act 2,38; 10,45), die ihrerseits alle anderen Gaben vermittelt, was Anlaß zur Rede von den "Gaben des Geistes" gibt (Jes 11,2; 1Kor 12,1-11). Correggios Zeichnung "Eva reicht den Apfel", wohl eines der bezwingendsten Gabe-Bilder der Kunstgeschichte[11], läßt keinen Zweifel daran, dass auch hamartiologisch das Gabemotiv höchst prominent ist: "... da nahm sie von seiner Frucht und aß und gab auch ihrem Mann ..." (Gen 3,6). Eine Ethik der Gabe hat auszugehen von der göttlichen Vorgabe des Lebens und aller seiner Güter, die in den Dienst der Mitmenschen gestellt werden soll: "Dient einander, eine jede entsprechend der Gabe, die sie empfangen hat, als die guten Haushalter der vielfältigen Gnadengabe (charis) Gottes" (1Petr 4,10). Für so von Gott Begabte wird selbst ein vorbehaltloses Geben möglich: "Der, die dich bittet, gib!" (Mt 5,42). – "Was ich aber habe, das gebe ich dir" (Act 3,6).

Oswald Bayer nennt mit Verweis auf Röm 6,23 und Joh 3,16 Gabe "ein Urwort der Theol[ogie]", um zugleich ebenso kritisch wie einladend anzufügen: "was von dieser aber erst noch zu entdecken und bis in die Ontologie hinein zu ermessen ist"[12]. Die folgenden Überlegungen wollen sich an dieser Entdeckung beteiligen. Sie sind ein erster, noch ganz vorläufiger Versuch, von der gegenwärtigen Diskussion um Marcel Mauss' "Gabe"-Essay für eine biblisch begründete Theologie und Ethik der Gabe zu lernen[13], denn "als Urwort der Theol[ogie] erschließt sich G[abe] konkret im Bezug zur religionswiss[enschaftlichen] Erkenntnis der kulturanthropologisch fundamentalen Bedeutung der G[abe]"[14].

Gerade eine Theologie der Gabe hat sich der von M. Godelier diagnostizierten Rückkehr der milden Gabe zu stellen, gehört doch die Mildtätigkeit bis heute konstitutiv zur kirchlichen Diakonie. Auch in Zeiten hochprofessionalisierter gesellschaftlicher Spendenkampagnen gibt es kirchliche Kollekten in jedem Gottesdienst. Die Notwendigkeit einer Theologie (und Ethik) der Gabe liegt hier buchstäblich auf der Hand oder im Portemonnaie, im Klingelbeutel oder Opferstock. Aber nicht nur aus diesem Grund wähle ich als Fallbeispiel das paulinische Projekt der Jerusalemer Kollekte. Die rhetorisch brillanten Werbemaßnahmen, die Paulus in 2Korinther 8-9 für dieses Unternehmen ergreift, bergen mit ihren innerbiblischen Referenzen und Reverenzen eine Fülle von theologischen Gabe-Motiven, die über den konkreten Anlaß hinaus von grundsätzlicher Bedeutung für eine theologisch reflektierte und verantwortliche Praxis der (milden) Gabe sind. Der gabentheologischen Auslegung dieses biblischen Textes (Kapitel III) geht eine kleine, theologisch anschlußfähige Phänomenologie der Gabe voraus (II). Dabei gilt mein Interesse insbesondere der Ambivalenz der Gabe und ihrer Infragestellung als Tauschphänomen. Diese Motive finden sich vor allem in der philosophischen Mauss-Rezeption bei J. Derrida und B. Waldenfels, die darum als gegenwärtige Interpreten des Mauss'schen Gabe-Essay nach einem kurzen Blick auf diesen selbst und Beobachtungen zur aktuellen Spendenpraxis ausführlicher zu Wort kommen sollen. Eine knappe Schlußbetrachtung (IV) verbindet den mehrfach überlieferten Ausdruck "geben, was man nicht hat" mit der im Sprechakt des Gebets gewonnenen und praktizierten Einsicht: "Wir geben dir aus deiner Hand" (1Chr 29,14), als deren innerbiblische Explikation das paulinische Kollektenschreiben verstanden werden kann.

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[1] Das Rätsel der Gabe. Geld, Geschenke, heilige Objekte. Aus dem Französischen übersetzt von Martin Pfeifer, München 1998, 11 (frz. Original: L' énigme du don, 1996); die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf die deutsche Ausgabe. Vgl. zu verschiedenen Arbeiten M. Godeliers auch den Beitrag von Hans-Martin Gutmann in diesem Band.

[2] Annette Weiner, Inalienable Possessions. The Paradox of Keeping-while-Giving, Berkeley/California 1992.

[3] Elisabeth von Thadden, 1 Schwein macht 2 Muscheln, in: DIE ZEIT, Nr. 52 (22. Dezember 1999), 49f., Zitat: 50.

[4] Karin Priester, Milde Gaben reichen nicht. Maurice Godelier fragt, was Gesellschaften zusammen hält, in. Evangelische Kommentare 33 (2000), 53.

[5] Ulrike Brunotte, Das Schenken des Unveräußerlichen. Maurice Godelier sucht das "Rätsel der Gabe" zu lösen, in: Frankfurter Rundschau vom 29. Januar 2000, ZB 4.

[6] In: ders., Soziologie und Anthropologie 2: Gabentausch. Soziologie und Psychologie. Todesvorstellungen. Körpertechniken. Begriff der Person. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, Henning Ritter und Axel Schmalfuß (FW 7432), Frankfurt a.M. 1989, 9-144; das französische Original Essai sur le don erschien 1925 in L' Année Sociologique (N.S.) 1 (1923/24), 30-186. Der Essay ist auch in einer Einzelausgabe als stw 743 erhältlich – mit einem Vorwort von E.E. Evans-Pritchard. Übersetzt von Eva Moldenhauer. Anhang: Henning Ritter, Die ethnologische Wende. Über Marcel Mauss, Frankfurt a.M. 31996. Nach dieser Ausgabe wird hier zitiert.

[7] Dies gilt vor allem für die ausführliche Einschätzung des Mauss'schen Vermächtnisses im ersten Teil der Studie (20-153).

[8] M. Mauss, Gabe, 172.

[9] "Kaum einer hat Die Gabe lesen können, ohne die ganze Skala der Empfindungen zu durchlaufen, die Malebranche in Erinnerung an seine erste Descartes-Lektüre so gut beschrieben hat: Unter Herzklopfen, bei brausendem Kopf erfaßt den Geist eine noch undefinierbare, aber unabweisbare Gewißheit, bei einem für die Entwicklung der Wissenschaft entscheidenden Ereignis zugegen zu sein" (Claude Lévi-Strauss, Einleitung in das Werk von Marcel Mauss, in: M. Mauss, Soziologie und Anthropologie 1: Theorie der Magie. Soziale Morphologie. Aus dem Französischen von Henning Ritter (FW 7431), Frankfurt a.M. 1989, 7-41, Zitat: 26. Und Henning Ritter bemüht Walter Benjamins Begriff der "wissenschaftlichen Prophetie" zur Charakterisierung der Bedeutung des Gabe-Essays (Die ethnologische Wende. Über Marcel Mauss, in: M. Mauss, Gabe, 188-208, Zitat: 191).

[10] Zu den wenigen Ausnahmen zählen vor allem Studien von Hans-Martin Gutmann zur Unterscheidung von (kapitalistischer) Waren- und Geldökonomie und (evangelischer) Gabenökonomie sowie zum Verständnis des Opfers als Gabe (etwa "Das Opfer im Film", in: ders., Das Geschenk, das die Gewalt verschlingt. Über Krimis, Kino und Gott oder Geld, Wuppertal 2001, 31-48, sowie seinen Beitrag in diesem Band).

[11] Vgl. dazu die Auslegung von Jean Starobinski, Gute Gaben, schlimme Gaben. Die Ambivalenz sozialer Gesten. Aus dem Französischen von Horst Günther, Frankfurt a. M. 1994 (frz. Original: Largesse, Paris 1994), 8-11.

[12] Oswald Bayer, Art. "Gabe". II. Systematisch-theologisch, in: RGG4 3, Tübingen 2000, 445f. (Zitat: 445).

[13] Unter dem Titel "Geben, was man nicht hat" wird das hier nur Skizzierte zu einer biblischen und dogmatischen Theologie und Ethik der Gabe fortgeschrieben werden.

[14] O. Bayer, Gabe, 446.